Rajeev
Balasubramanyam
STARSTRUCK

Aus dem Englischen von Thomas Melle


Ein Roman in zehn Teilen

Mitwirkende (in alphabetischer Reihenfolge): David Beckham, Björk, Tony Blair, George Bush Senior, Sarah Ferguson, Prinz Harry, Michael Jackson, Steve Jobs, Freddie Mercury und Mike Tyson

In Erinnerung an Shyam

Alle Personen in diesem Buch sind erfunden. Jede Ähnlichkeit mit realen Personen ist rein zufällig.

Und:

All haters are just confused admirers.

– Justin Bieber

Wenn du dieses Buch liest, bist du wahrscheinlich wie ich. Warum sonst sollte dich interessieren, ob Rihanna Chris verlassen, ob Miley Robin angetwerkt oder wie viel die Hochzeit von Kim und Kanye gekostet hat? Prominente sind Idioten, die von Idioten an andere Idioten verkauft werden. Warum sollten wir ihren Narzissmus finanzieren? Warum unsere Zeit verschwenden? Wir sind schließlich keine Idioten.

Doch so einfach ist es nicht. Manchmal wird uns Atheisten erst auf dem Sterbebett klar, dass wir unser ganzes Leben nur von Gott geredet haben.

O ja, am Ende kriegen sie uns.

Früher oder später werden wir alle starstruck, promigeil, ob wir wollen oder nicht.

Das weißt du, denn auch du hast es gesehen. Versuche nicht, es zu leugnen. Ich weiß es, du weißt es, die anderen wissen es. Wir alle haben es gesehen, Herrgott nochmal.

Was gesehen? Komm mir nicht damit. Du weißt, was.

Das Video. Ja, genau, das Video.

Über zwei Milliarden Klicks auf YouTube. Google war für zwei Stunden offline. Das Thema wurde, und zwar sehr ernsthaft, bei einer Fragestunde des Premierministers behandelt. Und was ihn etwas angeht, das geht dich auf jeden Fall auch etwas an. Warum, spielt keine Rolle. Es ist einfach so. Als dieses Video online ging, hielt die Welt den Atem an, und ein kollektiver Seufzer war zu vernehmen.

Er lebt, sagten wir alle im selben Moment. Er lebt.

Und alle lächelten wir, selbst die Abgestumpften und die Zyniker, die Intellektuellen und die Eremiten, ja, sogar die verschwitzten, milchgesichtigen, herumhurenden Pressefritzen.

Wir alle.

Außer mir vielleicht.

Als ich das Video sah, wusste ich sicher, dass mein Bruder tot war.

Los, öffne den Browser. Tipp die Wörter ein, du weißt schon, welche. Scrolle hinunter und klicke auf Play.

Und dann schau.

Mein Bruder hat das für dich gemacht, also erzähl mir nicht, dass du nicht lächelst. Erzähl mir nicht, es sei dir egal. So habe ich auch geredet, früher.

1.

Der ganze Streit ging von meinem Vater aus, und ich hasste ihn dafür. Als ich ihm sagte, dass ich heiraten würde, leuchteten seine Augen auf wie Kathodenstrahlen:

„Ameena …“, murmelte er, während es ihm langsam dämmerte. „Aber wir sind doch gegen Muslime“, sagte er. „Genau, wie wir gegen Schwarze sind. Beschäm uns bitte nicht.“

Es war dieses Verb, das mich verletzte; ‘verärgere uns nicht’ wäre besser gewesen, sogar ‘blamier uns nicht’. Alles wäre besser gewesen.

Ich musste es mir eingestehen: Mein Vater war weder rückwärtsgewandt noch ignorant; er war schlichtweg ein gemeiner Egoist. Sechs Jahre lang redete ich nicht mehr mit ihm.

Er bat am Ende darum, aus dem Krankenhaus entlassen zu werden, um zuhause in seinem Schlafzimmer zu sterben. Ameena und ich lebten in den Staaten, aber wir flogen sofort hin und quartierten uns in einem Hotel ein. Ich ging nach Hause und sie einkaufen, weil uns nichts Besseres einfiel. Das erste, was mein Vater zu mir sagte, war: „Ashish, entweder diese Tapete verschwindet, oder ich.“

Mein Vater war ein Oscar-Wilde-Fan, obwohl er sich immer weigerte, mir zu glauben, dass sein Idol schwul war.

Ich setzte mich auf sein Bett und hielt seine Hand, und er sagte: „Wo ist Ameena? Wo ist meine Tochter?“

Ich war so verblüfft, dass ich nur noch weinen konnte.


Wir waren bei meinem Vater, als er seinen letzten Atemzug tat, und ich vergab ihm alles - es war so einfach. Sein Tod brachte meine Mutter, Ameena und mich wieder zusammen. Wir wurden zu einer Familie. Vergebung ist der reinste Ausdruck der Liebe.

Doch dann begann meine Ehe auseinanderzubröckeln.

Nicht die Familie war schuld an diesem Zerwürfnis, sondern die Politik - ein Wort, das ich inzwischen hasse. Es fing mit dem 11. September an und fand sein Ende an dem Tag, als George Bush Senior vorbeikam, um unsere Toilette zu benutzen. Aber dazu kommen wir später.

Ameena und ich waren nie sehr politisch. Als Jugendlicher war ich in der Labour Party, und sie hatte was mit Greenpeace zu tun, in New York leitete sie dann, außer ihrer Zahnarztpraxis, noch eine Frauengruppe, aber das war mehr eine Therapie für einsame Herzen als irgendetwas Feministisches. Und ich, ich bin in meiner Arbeit schier ertrunken.

Ich bin Professor für Linguistik und habe alles gelesen, was Noam Chomsky je geschrieben hat, jedenfalls alles außer seinen politischen Aufsätzen. Die standen zwar in meinem Bücherregal, aber ich hatte nie das Bedürfnis, sie zur Hand zu nehmen. Ich habe den Mann sogar bei drei verschiedenen Anlässen getroffen, doch wir redeten ausschließlich über Grammatik und Genetik. Ich könnte wohl die Namen des amerikanischen Präsidenten, des britischen Premiers und vielleicht noch zwei anderer Staatsoberhäupter aufzählen, für einen Akademiker ist das schon ganz gut. In meiner Universität gibt es einen Professor, der denkt, dass China noch immer von Mao regiert wird. Als ich ihn berichtigen wollte, sagte er: „Ach ja, klar, der neue Typ; wie hieß der noch, Hong Kong?“

Ich schätze, es ist ein ziemlicher Luxus, so sein zu können, und es fällt daher in Amerika leichter als in jedem anderen Land, obwohl sich das nach dem 11. September zu ändern begann. Er rüttelte alle irgendwie auf, und als die Apathiker dann über Nacht politisch geworden waren, gaben sie die dümmsten Sachen von sich. Das ist unvermeidlich. Stell dir vor, alle würden sich plötzlich am Esstisch über generative Grammatik unterhalten wollen.

Diese Veränderung fiel mir erstmals auf, als Ameena eines Tages verheult nach Hause kam, und sie zitterte geradezu vor Wut. Es stellte sich heraus, dass jemand ihr beim Warten an der Supermarktkasse vier Speckstreifen in die Bluse gesteckt hatte. Dass ihr niemand helfen wollte, machte es nur noch schlimmer. Einige lachten sogar. Sie bewarf den Übeltäter mit dem Speck, fluchte laut, schmiss eine Flasche aus dem Regal auf den Boden und verschwand, doch auf dem Heimweg fing eine Streife sie ab und nahm sie fest, um sie zu verhören. Sie ließen sie zwar frei, sie aber ging daraufhin für drei Tage nicht mehr aus dem Haus. Am vierten Tag war Ameena verändert.

Sie trank mehr, fing aber auch an zu beten, und bisweilen ging sie mit einem Kopftuch nach draußen. All das verlieh ihr eine neue Stärke, was mich erfreute, doch außerdem begann sie, über Politik zu reden. Ständig. Anfangs war mir das egal. Nun ja, ich hörte halt zu. Aber mit der Zeit wurde es extremer. Ameena ging auf Demonstrationen, und wenn sie von dort nach Hause kam, war sie so überdreht, dass sie stundenlang herumfluchte. Als ich sie anflehte, damit aufzuhören, schrie sie mich an:

„Dir ist alles egal außer dir selbst“, sagte sie. „Wach auf, du Idiot. Siehst du denn nicht, was los ist?“ Und, am schlimmsten: „Du bist kein Muslim. Warum solltest du uns verstehen? Dir macht das wohl auch noch Spaß.“

Aber das war einfach nur unfair, von welcher Seite man es auch betrachtete. Ja, ich war kein Muslim, aber meine Frau war eine Muslimin, und ich identifizierte mich mit ihr, also identifizierte ich mich auch mit ihnen. Ich versuchte, ihr das klarzumachen, aber sie sagte, ich solle den Mund halten und nicht linguistisch daherreden.

„Das ist die Realität, Ashish.“

„Das ist Logik, Ameena. So denke ich einfach.“

„Scheiß auf Logik. Wie wär’s mit ein wenig Solidarität? Du weißt, dass Michael Jackson Muslim geworden ist?“

„Was?“

„Es ist wahr.“

Es stimmte. Es stand im MJ-Schrein. Aber was hieß das schon?

„Willst du mir sagen, dass ich konvertieren soll?“

„Ich will sagen, dass der Islam ein Zufluchtsort für die Unterdrückten ist. Nicht, dass Sie irgendwas davon verstünden, Herr Professor.“

„Wir werden nicht unterdrückt. Der Krieg ist Tausende von Kilometern weit weg. Wir haben zwei Autos und ein Haus.“

„Der Krieg ist hier, vor der Tür. Siehst du das nicht?“

Ich blickte aus dem Fenster.

„Nein.“

„Selbst wenn der Krieg Tausende von Kilometern entfernt ist: Die töten Babys im Irak, Ashish. Willst du mir sagen, dass dir das egal ist?“

„Ich dachte, das war in Afghanistan.“

„Die Sanktionen, du Idiot!“

„Gegen Babys?“

Sie wurde so wütend, dass sie in mein Arbeitszimmer ging und mit den Chomsky-Bänden nach mir warf. Danach versuchte ich tatsächlich, auch die politischen Bücher zu lesen. Jedoch konnte ich mich dann nie an das erinnern, was ich gelesen hatte. Das machte sie nur noch wütender, bis wir im Herbst kaum mehr miteinander sprachen. Es war so schlimm, dass ich sogar versuchte, Chomsky anzurufen, doch er rief nie zurück.

Im Oktober sah ich sie vielleicht zwei Abende die Woche, aber entweder telefonierte sie oder surfte im Internet, kommunizierte mit „Gleichgesinnten“. Ich hatte damals keine Ahnung, was „Gleichgesinnte“ eigentlich bedeuten sollte. Meine Frau wurde mir fremd.

Der November kam, und meine kleine Schwester stand kurz vor ihrem Studienabschluss. Sie hatte zuhause gewohnt, um die Kosten gering zu halten, denn - das wusste ich immerhin - die Regierung hatte Studiengebühren eingeführt. Ameena und ich beschlossen, zur Abschlusszeremonie nach England zu fliegen. Ich befürchtete, dass sie sich noch umentscheiden würde, was meine Mutter verärgert hätte, aber als der Tag da war, hatte sie gepackt und war reisebereit.

Natürlich wurde unser Gepäck gleich zweimal durchsucht, doch Ameena sagte nichts, nicht einmal während des Fluges. Auch ich schwieg, um sie nicht zu provozieren, und las Deterring Democracy von Chomsky. Als wir landeten, schien Ameena entspannter zu sein und gestand, dass sie froh über unseren Aufenthalt in England sei.

„Es ist zum Kotzen faschistisch“, sagte sie, „aber schlimmer als Amerika kann es nicht sein.“

Ich nickte zustimmend.

Als wir zuhause ankamen, drehte sich das Gespräch ausschließlich um Mala und ihre Erfolge, die Atmosphäre war liebevoll und fröhlich. Mala teilte uns ihren Entschluss mit, ihren Doktor in Politik zu machen. Ameena applaudierte ihr, während ich ein langes Gesicht machte, worauf mir nahegelegt wurde, doch endlich mal erwachsen zu werden; von wem, weiß ich nicht mehr genau.

Ameena und ich überreichten Mala das Geschenk, das wir ihr aus New York mitgebracht hatten, ein brandneues Apple Powerbook G4 mit 17-Zoll-Bildschirm.

„Darauf kannst du deine Dissertation schreiben“, sagte ich zu ihr.

„Gibt kein schnelleres, Süße“, sagte Ameena. „Schau dir den Bildschirm an. Ist super für DVDs.“

Mala murmelte „danke“, ließ den Computer jedoch in der Verpackung. Ameena sah mich an. Ich sah Mutter an.

„Sie ist eine Anarcho-Primitivistin“, sagte Mutter.

„Was ist das denn?“, fragte ich.

„Weiß ich nicht.“

„Sie ist gegen Technologie-Fetischismus“, erklärte Ameena. „Sie will zurück zur Natur.“

Ich presste mein Gesicht in ein Kissen und schrie hinein, was die anderen für einen Witz hielten.

Während des Essens machten wir eine eine Flasche Champagner auf, dann eine zweite. Ameena trank am meisten, aber sie schien guter Dinge zu sein. Sie zog Mala wegen ihrer Freunde auf, ereiferte sich mit meiner Mutter über die Aggression im Straßenverkehr (und das von einer Frau, die regelmäßig bei Männern, die sie für Republikaner hielt, zu dicht auffuhr), und sie grinste sogar über meine Witze.

Während meine Mutter nach dem Essen Kaffee machte, beging ich den Fehler, den Fernseher einzuschalten. Die Nachrichten liefen. Plötzlich wurden Ameenas Augen ganz glasig: ihr Nachrichtenblick. Dann kam meine Mutter wieder ins Zimmer, ein Tablett mit Kaffeetassen in den Händen. Sieben Minuten später war ein Streit zwischen den beiden entflammt, und Ameena war wieder stocknüchtern. Statistiken, Analysen und „harte Fakten“ schossen ihr aus dem wortgewandten Mund, worauf meine Mutter von oben herab mit halbverrückten, unlogischen Folgerungen konterte.

Dazu muss man wissen, dass meine Mutter für diesen Krieg war. Meine Frau nicht.

„Ich habe das Dossier gelesen“, sagte Ameena. „Es besteht nur aus Lügen.“

„Das denkst du nur, weil du keine Kinder hast“, sagte Mutter.

„Zehn Millionen Menschen weltweit haben an einem einzigen Tag protestiert“, sagte Ameena.

„Wie wär’s, wenn du dir ein Hobby suchst?“, sagte Mutter. „Vielleicht Vogelbeobachtung.“

„Wenn es überhaupt keine Waffen gäbe, gäbe es auch keinen Krieg“, sagte Mala.

„Warum beruhigen wir alle uns nicht ein wenig“, sagte ich und starrte meine Schwester sauer an.

„Halt den Mund, Ashish“, sagte Ameena.

„Ja“, sagte Mala. „Halt den Mund, Ash.“

Mala verstand nicht, dass mein ganzes Leben inzwischen aus diesen Ausbrüchen bestand, Tag für Tag von früh bis spät. Ich polterte nach oben, um zu rauchen, aber meine Mutter kam mir hinterher und befahl, ich solle dafür nach draußen gehen. Also stand ich, ein ordentlicher Professor von 38 Jahren, wie ein Teenager in der Kälte. Von der Straße aus konnte ich sie noch immer hören.

Als ich wieder ins Wohnzimmer kam, war ihre Meinungsverschiedenheit vergessen, und beide richteten sich gegen mich. Meine Mutter war plötzlich außer sich, dass ich eine Muslimin geheiratet hatte. Mal wieder. Und meine Frau war wütend darüber, dass ich mich weigerte, meine Mutter zu verdammen. Mala verschwand in ihr Zimmer und redete am Telefon mit ihren Freunden, was mich nur noch mehr verärgerte. Wie kommt sie dazu, ein Telefon zu benutzen, aber keinen Computer?

Wütend erhob ich meine Stimme:

„Haltet jetzt den Mund. Beide.“

Es funktionierte. Sie starrten mich mit Spielplatzgesichtern an.

„Ich muss euch was zeigen“, sagte ich und zog den Brief hervor (ich hatte ihn für den richtigen Moment aufgespart, der nun offensichtlich gekommen war).

„Lieber Professor Iyer“, hieß es da. „Im Rahmen der Abschlussfestivitäten möchte ich die Gelegenheit wahrnehmen, Sie zu einem Abendessen mit dem Vizekanzler am Abend des 9. Juli einzuladen. Es wäre uns eine Ehre, Sie in Ihrer Heimatstadt auszeichnen zu dürfen, und wir hoffen, dass Sie die Einladung annehmen. Wir haben nicht viele Wunderkinder vorzuweisen, zumal nicht solche Ihres unerreichten Formats.“

Ein paar akademische Stars würden anwesend sein, und natürlich war Ameena ebenfalls eingeladen. Es unterstrich die akademischen Meriten, die ich dank meiner Aufsätze in den letzten Jahren erreicht hatte, und meine Festanstellung in so jungem Alter. Meine Mutter war sehr stolz und wendete den Brief mehrmals um, so als würde sie einen beigefügten Scheck suchen. Auch Ameena schien glücklich zu sein.

„Es tut mir leid, dass ich mich so aufgeregt habe“, sagte sie. „Eine Abendgesellschaft scheint mir eine gute Idee zu sein.“

Ich öffnete einen Whiskey aus dem Duty-Free-Shop, und sogar meine Mutter liess sich einen winzigen Schluck einschenken. Doch dann kam Mala zurück und enthüllte die Identität des Tischredners.

Es war George Bush - Senior.

Ameenas Kopf schien um die eigene Achse zu rotieren.

„Ich verbiete dir, dich diesem Mann auch nur zu nähern“, sagte sie und versuchte zudem plötzlich, meiner Schwester die Abschlussfeier auszureden, was wiederum meine Mutter auf den Plan rief.

„Ameena, was hat dieser Mann dir denn getan? Er hat nur seinen Job gemacht, und das gar nicht mal schlecht. Jetzt können wir ruhig schlafen, ohne Angst vor einem Atomkrieg haben zu müssen.“

Ameenas Antwort war nicht zu verstehen. Ich konnte nicht einmal erkennen, in welcher Sprache sie da redete.

„Sag mal, Ameena“, fuhr meine Mutter fort, „wen magst du eigentlich? Du magst weder Bush noch Clinton, du magst Reagan nicht, du magst nicht einmal Thatcher oder Major oder Blair. Du magst niemanden.“

„Ich mag Menschen“, sagte Ameena. „Das ist der springende Punkt.“

„Welche Menschen denn?“, sagte meine Mutter. „Saddam Hussein. Oder Osama Bin … „

Ameena stürmte nach oben, und ich saß alleine mit meiner Mutter da, die mich anblickte, als wollte sie sagen: „Das ist alles nur deine Schuld.“

Wir stritten uns die ganze Nacht, meine Frau und ich. Sie beschimpfte meine Mutter auf die schlimmste Weise, mit Wörtern, die ich nicht zu wiederholen wage. Ich verlor schließlich die Fassung.

„Sie ist meine Mutter“, sagte ich. „So kannst du nicht über sie reden.“

„Schau dich nur an, Ash“, sagte sie. „Du verteidigst sie - sie, die Mörder und Vergewaltiger verteidigt, und völkermörderische … „

„Was redest du denn da? Das ist meine Mutter. Wir müssen nicht einer Meinung mit ihr sein. So sind Eltern.“

„Aber du bist mit ihr einer Meinung, oder, Ash? Auch du denkst, dass Bush ‘ein guter Mann ist, der viel um die Ohren hat’.“

„Ameena, ich sagte doch schon, dass ich von Politik keine Ahnung habe.“

„Es geht nicht um das, was du weißt, Ashish, es geht darum, wer du bist. Und wenn du zu diesem Essen gehst und neben diesem Mann sitzt, sagt es einiges darüber aus, zu was für einem Menschen du inzwischen geworden bist.“

„Ich bin Akademiker, Ameena, und das hier ist nur irgendeine Universität. Wir müssen sowas machen. Es ist eigentlich sogar ein Privileg.“

Privileg. Das bist du also, ein Verteidiger von Privilegien, genau wie General Scheißfranco.“

„Das ist der Spanier, nicht wahr?“

„Fahr zur Hölle, Ashish.“

„Meena, es tut mir leid. Ich will nur nicht, dass du dich mit Mama streitest.“

„Sie hat mich verdammtnochmal eine Terroristin genannt.“

„Sie war nur wütend. Ihr beide wart es. Überleg doch mal, wie du sie genannt hast.“

„Hier ist Schluss, Ash. Hier ist die Weggabelung. Du kannst zur Zeremonie gehen, aber wage es, diesem Abendessen auch nur nahezukommen, und mit unserer Ehe ist es aus. Mir ist egal, was du sonst machst.“


Ich schlief schlecht, doch am nächsten Morgen entschied ich mich, die Sache mit Ameena zu vergessen und an meine Schwester zu denken. Schließlich war das ihr Tag.

Die Zeremonie war goldig.

Meine Mutter weinte, und man umarmte und küsste sich und machte Fotos. Mala sah hübsch aus, und ich vermisste Ameena sogar und wünschte, sie wäre auch da. Und dann sah ich Bush.

Er kaute auf etwas herum, Tabak, kombinierte ich, und er hatte einen gelangweilten, aber, wie ich zugeben musste, machtvollen Gesichtsausdruck, als ob nichts seinen Willen beugen könnte, nicht einmal Pistolenkugeln. Ich fühlte, wie eine Epiphanie mir das Rückgrat hochkitzelte.

Ameena hatte allen Respekt vor mir verloren, weil ich unentschieden und zaudernd in meinen Meinungen war, oder keine Meinungen hatte, zu denen ich überhaupt hätte stehen können. Aber was zählte es am Ende, wo ich stand, solange ich nur wie ein Mann stand? Und wie stand eigentlich ein Mann? Genau wie der Expräsident hier vor mir, mit durchgedrückten Beinen, angespannten Muskeln und einem Kiefer wie ein Schraubstock. Er hatte den Mut, zu seinen Überzeugungen zu stehen, und ich würde das auch noch lernen.

Als die Zeremonie vorbei war, verschwand Mala mit ihren Freunden, und Mutter ging heim. Ich blieb. Da war ein Essen, an dem ich teilnehmen musste.

Mir wurde ein Büro zugewiesen, in dem ich mich umziehen konnte, und nachdem ich mich in meinen Smoking gezwängt hatte, mischte ich mich beim Prä-Empfangs-Empfang unter die Professoren. Es gab Champagner und Häppchen, die mir schmeckten, ich machte Steven Pinker am anderen Ende des Raumes aus und ging zu ihm. Er schätzt meine Analyse der Zeichensprache von Primaten sehr und schlug vor, ein Buch daraus zu machen, worauf ich lächelte und erklärte, dass „das Populäre nicht so mein Ding ist“. Danach redeten wir nicht mehr viel, was mich aber nicht störte. Der Ehrengast war eingetroffen, im Glanz seines silbernen Kummerbunds und präsidialer Manschettenknöpfe.

Ich wurde ihm, in einer Reihe stehend, vorgestellt, und wir plauderten kurz über mein Sachgebiet und die Stadtgeschichte. „Ja, ich kannte mal einen Linguisten“, sagte er. „Er war Cunnilinguist.“ Wir lachten beide, obwohl ich den Witz seltsam fand.

„Schätze, Ihre Frau mag das?“, setzte er einen drauf.

„Ja, jedenfalls liegt sie mir oft auf der Zunge.“

Bush schlug mir so hart auf den Rücken, dass ich meinen Drink verschüttete.

„Freut mich, dich kennenzulernen, Partner“, sagte Bush. „Wir hängen später noch ab, okay?“

„Alles klar, George“, antwortete ich und schüttelte ihm so viril wie möglich die Hand.

Wahrscheinlich war ich für ihn, der sonst von Schleimern umgeben war, so etwas wie eine frische Meeresbrise. Das erste Mal seit langem fühlte ich mich wichtig.

Ich saß mit einigen Physikern am Tisch und schlug mich ganz gut, machte ein paar fulminante Bemerkungen über die Wirkung von Mantras auf neuronale Zellenmuster, spielte die ethnische Karte, aber nicht zu stark (was immer am besten ist). Am meisten schmeichelte mir, als eine blonde Biologin mich darum bat, einen meiner Aufsätze zu signieren. Sie habe ihn extra mitgebracht, sagte sie.

Ich zwinkerte und schrieb: „In Liebe, Dein Cunnilinguist.“

Nun, ich hatte wirklich zu viel getrunken, aber sie wurde rot und gab mir ihre Nummer, die ich mir in den Kummerbund steckte.

Nach dem Essen hielt der Expräsident unter großem Applaus und ein paar Buhrufen seine Rede. Die Buhrufe steckte er locker weg. Jemand schrie, gerade als Bushs Fliege sich gelöst hatte und in seinen Teller fiel, dass Clinton der einzige echte Amerikaner in Washington gewesen sei.

„Jedenfalls wurde ich nie mit heruntergelassenen Hosen erwischt“, stichelte er, und die Menge röhrte ihre Zustimmung durch den Raum.

Als die Rede zu Ende war und Kaffee serviert wurde, schlängelte ich mich zu ihm durch. „Bescheuerter Zwischenrufer“, sagte ich. „Ein Mann in Ihrer Position muss sicherlich ständig auf der Hut sein.“

„Eigentlich kaum“, antwortete er. „Nachdem auf Reagan geschossen wurde, haben sie die Sicherheitsvorkehrungen derart verschärft, man glaubt es kaum. Die Hälfte der Leute hier sind Agenten.“

„Echt?“, sagte ich und überflog den Raum.

„Man sieht es nicht. Aber das sind Profis. Mach nur eine falsche Bewegung, und sie schießen dir zwischen die Augen, bevor du es überhaupt mitbekommst.“

Ich machte einen Witz, indem ich so tat, als würde ich ihn mit dem Teelöffel schlagen, und wir lachten beide schallend.

„Wo bist du her?“, fragte er.

Auf die Frage hatte ich gewartet.

„Nun, geboren bin ich hier, aber jetzt lebe ich in Ihrem Land.“

„Guter Mann“, sagte er. „Guter Mann. Solche wie dich brauchen wir.“

„Ja, ich mag es sehr dort“, begeisterte ich mich. „Ich lerne sogar Baseball.“

„Ich dachte, ihr Jungs mögt Cricket“, sagte Bush.

„Nee“, sagte ich (obwohl ich Cricket liebe). „Ich bin jetzt Amerikaner.“

„Schon mal in Texas gewesen?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Solltest du. Texas ist einzigartig. Schau dir mal diese Stiefel an.“ Ich sah sie an. Er war gekleidet wie Clint Eastwood. „Die sind gegen Schlangen. Deshalb sind sie so hochgeschnitten. Ich geh nie ohne sie raus.“

Und dann lud mich George Bush nach Texas ein. Er würde mir ein Flugzeug vorbeischicken, sagte er. Ich war so überrascht, dass mir keine Antwort einfiel.

„Bah, der Kaffee ist Mist“, sagte Bush. „Lass uns Bourbon trinken, oder etwas von dem Scotch, für den ihr Jungs so berühmt seid.“

Ich ging los, um eine Flasche zu suchen, aber als ich zurückkam, war George Bush gerade im Begriff aufzubrechen.

„Ich muss heute Abend in Edinburgh sein“, sagte er. „Wollte selbst hinfahren, aber die Security lässt mich nicht. Also werde ich mich jetzt hier verpissen und es trotzdem machen. Scheiß auf sie. Alt werden wir früh genug.“

„Sie sagen es“, sagte ich.

„Alle halten mich für so langweilig, weißt du. Alter Mann, der Bush. Humorloser Grantler. Aber das ist nur PR. Das bin ich gar nicht.“

„Glaub ich sofort.“

„Scheiß auf all das“, sagte Bush. „Willst du mitkommen? Ich fahre dich nach Hause, und wir nehmen einen Absacker im Wagen.“

„Das wäre toll“, antwortete ich und konnte meinen Ohren kaum trauen. Zusammen verdrückten wir uns in eine Ecke.

Für einen alten Mann war Bush erstaunlich flink. Und auch sehr stark, sein Arm schloss sich um meinen Bizeps wie ein Schraubstock, und ich stellte mir vor, wie er zuhause auf seiner Farm mit Büffeln rang. Im nächsten Augenblick waren wir durch die Tür und rannten über den Korridor, lachten wie Schuljungen. Wir hörten schreiende Männer hinter uns herrennen, aber wir liefen weiter die Treppen hinab, den Notausgang hinaus in die Nacht.

Bush führte mich in eine Tiefgarage, die mir noch nie aufgefallen war.

„Für VIPs“, sagte er, schloss seinen Mercedes auf und warf den Whiskey auf den Vordersitz.

Als wir losfuhren, sahen wir, wie zwei Agenten auf den Wagen zuliefen. Ich warf ihnen eine Kusshand zu.

Wir wählten die lange Route zum Haus meiner Mutter, so dass wir mehr Zeit für den Whiskey hatten. Auf der Autobahn schmissen wir die Gläser aus dem Fenster und ließen die Flasche hin- und herwandern. Bush riss ein paar Zoten, und wir sangen zu Bruce Springsteen, der im Radio lief.

Born in the USA!“, sang Bush.

Born in the USA!“, echote ich.

„Hey“, sagte ich betrunken, „ist das Lied nicht eigentlich irgendwie gegen euch?“

„Und wenn schon“, sagte Bush. „Das hat mein Sohn mal wieder nicht kapiert. Wenn man nämlich gegen uns ist, ist man trotzdem für uns, weil man schlicht keine andere Wahl hat, und das, mein Freund, ist Politik.“

„Politik, ja sicher“, sagte ich. „Erzähl das mal meiner Frau.“

„Frauen. Deren Vorstellung von Politik ist das hier.“

Mit diesen Worten holte Bush seinen Penis heraus und ließ ihn vor mir herumbaumeln.

„Alles klar“, sagte ich und tat es ihm nach.

„Schöner Pimmel, Alter“, sagte Bush.

„Deiner auch, George.“

Wir tranken und sangen, bis die Flasche leer war und in einem Feld landete. Dann hielt er den Wagen vor dem Haus meiner Mutter an.

„Also“, sagte ich, „das war großartig. Wir sehen uns in Texas wieder, Kumpel. Du hast meine Nummer.“

„Ja, klar“, sagte Bush. „Ich ruf dich an. Jetzt geh da rein und zeig deiner Frau, was Politik ist.“

„Mach ich, und danke fürs Fahren.“

„Kein Ding“, sagte Bush. „Aber hey, könnte ich vielleicht kurz eure Toilette benutzen? Muss ‘ne Menge Scotch loswerden.“

„O je, weiß nicht“, sagte ich. „Meine Frau ist nicht gerade dein größter Fan.“

„Ja, und?“, sagte Bush. „Wir sind Cowboys, Alter. Rodeostyle. Gib ihr die Sporen, reite die Kuh.“

„Okay“, sagte ich. „Hast recht. Komm mit.“

Wir gingen rein. Ameena war sicher eh im Bett, dachte ich.

Meine Mutter wartete in der Küche auf mich.

„Du hast doch nicht getrunken, oder, Ashish? Oh …“

„Mama“, sagte ich. „Das ist George Bush, aus Amerika.“

„Sehr angenehm, Mister Bush“, sagte Mutter.

„Nennen Sie mich einfach George“, sagte Bush.

„Darf ich Ihnen einen Tee anbieten?“

„Das wäre schön, Lady. Einfach nur schön wäre das.“

„Ich setz welchen auf.“

„Das Badezimmer ist oben“, sagte ich.

„Ashish!“, sagte Mutter, nachdem er weg war. „Bist du jetzt völlig bekloppt?“

„Ich dachte, du freust dich, Mama. Ich habe ihn mitgebracht, damit du ihn kennenlernen kannst.“

Mutter sah kurz froh aus, wurde aber sofort wieder ernst.

„Und was ist mit Ameena, Ashish. Mit mir hat sie heute Nachmittag Frieden geschlossen, mit dir aber ist sie noch längst nicht im Reinen. Ich habe ihr gesagt, sie solle vergeben und vergessen, aber ich weiß nicht, wie sie das hier je vergessen soll.“

„Wo ist sie?“

„Im Schlafzimmer. Schau nach ihr, und dann werd ihn schnell los, sonst verzeiht sie dir nie.“

„Okay“, sagte ich und ging nach oben.

Bush hatte Stiefel und Gürtel im Schlafzimmer abgelegt und lag auf meiner Frau. Er presste ihr ein Taschentuch auf den Mund.

„Scheiße, was machst du denn da“, schrie ich.

„Immer mit der Ruhe, Partner.“

Zwei Hanteln lagen auf dem Boden. Ich hob eine auf und schmetterte sie gegen den Kopf des Expräsidenten. Sie schien einfach abzuprallen, also schlug ich nochmals zu. Sie brach entzwei, aber immerhin hielt er jetzt inne und blickte zu mir herauf.

„Runter von meiner Frau“, sagte ich.

„Moses und Jesus auf der Arche, ey. Jetzt bleib mal geschmeidig, Freundchen.“

„Runter da!“

„Okay, okay. Halt die Bälle flach.“

Bush zog seine Hose hoch und ging nach unten. Ameena war bewusstlos. Ich streichelte ihre Hand und wählte den Notruf. Ich sagte ihnen nicht, wer der Eindringling war, nur dass er gefährlich und ein Vergewaltiger sei.

Danach fiel mir ein, dass ich meine Mutter alleine gelassen hatte, und stürmte nach unten. In der Küche war niemand. Ich wurde panisch und stürzte ins Wohnzimmer.

George Bush saß auf dem Sofa, trank Tee und weinte. Meine Mutter hielt ihn in den Armen.

„Armes Ding“, sagte sie. „Muss dringend in Therapie.“

„Ein Tier ist das!“, schrie ich. „Ins Gefängnis muss er, das ist alles, wo er hin muss, verdammte Scheiße!“

„Ashish, nicht in diesem Ton“, sagte Mutter.

„Ameena hat recht gehabt. Du bist nichts als ein Verbrecher und Mörder, George. Ein Verbrecher gegen alle Menschlichkeit.“

„Ein Verbrecher?“, sagte Bush. „Nenn mir ein Verbrechen, das ich begangen habe. Nur eines.“

„Granada“, sagte ich, Chomsky im Hinterkopf. „Tausende hast du ermordet.“

„Das war Reagan“, sagte Bush.

„Was wir nicht wissen, sollten wir nicht verurteilen“, sagte Mutter.

„Weißt du, was euer Problem ist?“, sagte Bush. „Ihr Typen lasst die Vergangenheit nie ruhen. Was wollt ihr denn? Wollt ihr, dass ich die Schwarzen wieder zum Leben erwecke? Sie sind tot, Mann. Lass einfach los.“

„Aber meine Frau, du Wichser. Du -“

„Ich hatte keinerlei sexuelle Beziehung zu dieser Frau.“

„Aber du hast es versucht - „

„Das ist die Vergangenheit“, sagte Bush. „Du musst vergeben können.“

“Scheiße, das war vor zehn Minuten, Mann!“

Bush hielt inne, legte die Daumen aneinander, als würde er meditieren, und sprach sanft wie ein Hypnotiseur zu mir.

„Das kommt alles nur, weil ich weiß bin, richtig?“, sagte Bush. „Gib’s zu, Haschisch. Es ist okay. Wir können drüber reden. Weil ich weiß bin, ja?“

Mir fiel keine Antwort ein.

„Werte Dame“, sagte Bush. „Haben Sie etwas dagegen, wenn ich rauche?“

„Ich hole Ihnen einen Aschenbecher“, sagte Mutter.

„Und noch ein wenig Tee. Mit Zitrone, falls Sie welche haben.“

„Was soll die Scheiße?“

„Ashish, nicht solche Wörter.“

„Mama!“

Aber Mutter war schon aus dem Zimmer gegangen, um George Bush seinen Tee zu machen. Ich rannte hinterher.

„Mama, schau bitte nach Ameena.“

„Gleich, Ashish.“

„Mama. Tu’s einfach.“

„Ich muss Tee machen.“

„Das übernehme ich. Geh einfach, Mama. Ameena geht’s nicht gut.“

Sobald meine Mutter gegangen war, zündete ich mir eine Zigarette an und überlegte, was zu tun war. Während ich so dastand, kam George Bush in die Küche.

„Hey, Partner.“

„Komm keinen Schritt näher, Arschloch. Die Polizei ist auf dem Weg.“

„Du bist nicht fair, Haschisch. Und nachtragend dazu. Das ist nicht gerade die amerikanische Art.“

Er ging ein paar Schritte auf mich zu. Ich holte das Brotmesser aus der Schublade.

„Ich warne dich, George. Ich steche zu.“

Born in the USA“, sang Bush, lächelte und wollte mich umarmen.

„Hast du nicht gehört“, sagte ich und stürzte mit dem Messer los.

Bevor ich es begriff, hatte Bush mich aufs Linoleum geworfen und fixierte mich, den Arm auf den Rücken verdreht. Ich wand mich, suchte mit den Händen nach einer Waffe und erfasste das Kabel des Bügeleisens, das vom Brett auf den Boden knallte. Ich fuchtelte so lange herum, bis ich es in die Hand bekam. Dann schlug ich es so heftig, wie ich nur konnte, hinter mich.

Ein dumpfer Schlag, und der Griff um meinen Arm lockerte sich. Ich schüttelte den Expräsidenten ab und stand dann über ihm. Er kniete vor mir, das Gesicht blutüberströmt, die Arme geöffnet wie zum Gebet. Als ich zögerte, griff meine Mutter sich das Eisen und rammte es gegen seine Stirn. Der Expräsident brach auf dem Boden zusammen und rührte sich nicht mehr.

Ich erinnere mich nicht mehr an viel danach. Wir saßen einfach da, meine Mutter und ich, benommen und erschöpft.

Als die Polizei eintraf, legten sie mich in Handschellen und riefen eine Sondereinheit. Ein Beamter in Zivil setzte sich neben mich aufs Sofa.

„Es war Selbstverteidigung“, sagte ich zu ihm. „Ich habe die Polizei gerufen, nicht er.“

„Wir haben eine Tasse Tee mit seinen Fingerabdrücken gefunden. Noch warm. Wer hat den Tee zubereitet?“

„Meine Mutter.“

„Vor oder nach der mutmaßlichen Straftat?“

„Naja, danach.“

„Also wollen Sie mir weismachen, dass ein Mann Ihre Frau vergewaltigt, und Sie machen ihm danach einen Tee?“

„Nein, es war meine Mutter. Hören Sie … „

„Nein, Jüngelchen, jetzt hörst du mal zu. Wir werden jetzt folgendermaßen verfahren. Wir lassen die Leiche verschwinden, und morgen nimmst du den nächsten Flug nach Amerika und erzählst niemandem auch nur ein Wörtchen hierüber. Ist das klar?“

„Aber George Bush …“

„Das ist nicht George Bush, du Idiot. Das ist ein Doppelgänger. Denkst du, der echte George Bush würde zu irgendeiner beschissenen Universität am Arsch der Welt kommen?“

„Also …“

„Also nichts. Das da ist ein Schauspieler, mehr nicht, und offiziell ist hier nichts passiert. Wir können es uns nicht leisten, unsere Beziehungen zu Amerika zu belasten. Nur ein Sterbenswörtchen, und du bist vor Mittag in Guantanamo Bay. Verstanden?“

Ich nickte.

„Jetzt geh nach oben, damit wir das Schlamassel hier beseitigen können. Meine Fresse.“

Ich ging nach oben. Ameena war wach und saß mit meiner Mutter, die sie in den Armen hielt, auf dem Bett. Ich setzte mich dazu, und Ameena legte ihren Kopf auf meine Schulter. So saßen wir zu dritt, bis die Polizei verschwunden und keine Spur von George Bush mehr übrig war.

Wir sprechen nie darüber, bis heute nicht, aber jene Nacht rettete meine Ehe. Das verstehe ich jetzt. Ich verstehe alles, was meine Frau mir zu sagen versuchte.

In der Politik geht es um Liebe, nicht um Meinungen. Das hat mir mein Vater beigebracht, und wenn George Bush dasselbe mit seinem Sohn getan hätte … hat er aber nicht, und das ist der springende Punkt.

Wenn ich heute wieder einmal verwirrt über Politik bin, denke ich an jene Nacht zurück. Nicht an das, was zuvor passiert ist, nur an jene Nacht, wie wir drei auf dem Bett saßen, während die Welt sich wirr um uns drehte.

2.

Facebook

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Was machst du gerade?


Mala Iyer

Zunächst einmal ist es traurig und schmerzhaft, wenn jemand in seinen frühen Fünfzigern an Krebs stirbt, aber die Reaktionen auf den Tod von Steve Jobs irritieren mich. Es scheint, als sei Erfolg der einzige wahre Wert, den wir gelten lassen, es scheint, als ob Konsumgüter und Design den Platz der Kunst eingenommen haben und wir uns mehr darüber, was stylish und cool ist, und eher über unseren Besitz als unsere Freundschaften definieren. Ich kann nicht verstehen, warum der Besitz von zehn verschiedenen Apple-Produkten uns glücklicher machen sollte, und seien sie noch so edel und clever, und ich verstehe nicht, warum Steve Jobs, ein Unternehmer und ein Manager für Design / Innovation, mit Einstein, Moses oder Edison verglichen wird. RIP Steve Jobs, aber lasst uns nicht vergessen, dass er nichts weiter getan hat, als Konsumgüter an eine überschuldete, süchtige Bevölkerung zu verkaufen. Falls Jobs die Welt verändert hat, dann muss man sich fragen, ob es wirklich zum Guten war.

9. Oktober um 07:52 Gefällt mir Kommentieren


Nathaniel Jacobs

Mala, du hast da sicher einen Punkt getroffen, ich kann aber für mich nur sagen, dass ich bei Jobs und seinen Produkten die Humanität hinter dem Design mehr als das Design selbst bewundere. Es ist dieselbe Humanität, die zu großartiger Musik, Literatur oder zu großen sozialen Bewegungen führt. Ich kann ehrlich sagen, dass diese Produkte meiner eigenen Humanität dazu verholfen haben, sich besser auszudrücken, und ich kann nicht glauben, dass das nicht auch für dich gilt. Du hast einen iPod, ich habe ihn schon gesehen. Und hast du das gerade nicht auf einem Mac geschrieben?

9. Oktober 2011 um 08:21 Gefällt mir


Christian Seleko

Mala, ich finde, es ist für solche Kommentare noch viel zu früh. Hast du nur einen Moment an Steve Jobs’ Ehefrau und Kinder gedacht, oder an die Apple-Familie, die er hinterlassen hat? Der Mann hat die Welt verändert und seine Spuren in den Herzen der Geister von buchstäblich Millionen von Menschen hinterlassen. Zeig bitte etwas mehr Respekt. RIP Steve. Wir vermissen dich.

9. Oktober 2011 um 08:33 Gefällt mir


Hardeep „dünner Jim“ Singh

@Christian Seleko. Christian, du hast völlig recht. Wir alle lieben Mala, aber das ist inakzeptabel. Sowohl Jobs als auch seine Produkte haben unsere Generation definiert. Jetzt, wo er weg ist, fühlt es sich an, als ob es keine Magie mehr auf der Welt gibt. Apple wird weiterhin wunderbare Produkte entwickeln und herausbringen, aber ich zweifle, ob es noch einmal jemanden geben wird, der unsere Vorstellungskraft so anregen kann wie Steve. Ruhe in Frieden.

9. Oktober 2011 um 08:48 Gefällt mir


Lucy Manningtree

OMG, Mala, was ist nur in dich gefahren? Siehst du denn nicht, dass die Menschen trauern? Lösch den Eintrag oder geh gleich ganz von Facebook weg. Du hast mir das Frühstück versaut. RIP Steve. Und Entschuldigung.

9. Oktober um 8:58 Gefällt mir


David Kohli

Mala, fuck you. Ganz ehrlich. Mein Sohn hat das gelesen.

9. Oktober um 9:21 Gefällt mir


Claire Yahlty

Hätte es Steve Jobs nicht gegeben, könntest du das überhaupt nicht schreiben, du undankbare Schl**pe. Du würdest die Welt wahrscheinlich gar nicht mehr wiedererkennen, wenn wir seine Erfindungen wegnähmen. Ganz genau, wir wären zurück in der Steinzeit. Klugscheißer wie du sollten es sich zweimal überlegen, bevor sie irgendwelche Kommentare posten, die unschuldige Leute verletzen und sich über genau die Personen lustig machen, die ihnen das Leben in einer freien Gesellschaft ermöglichen. Steve Jobs war millionenmal besser als du, Mala. Werd erwachsen und hol dir ein Leben.

9. Oktober um 9:24 Gefällt mir


JD Richey

es gibt eine art der liebe, die loslassen kann, es gibt ein geschlechtsorgan namens whiskey, es gibt einen könig namens Robert der Zweite

9. Oktober um 9:29 Gefällt mir


Frank Sorrell

da Vinci, Edison, Jobs. Goebbels, Nixon, Iyer. Ganz einfach.

9. October um 9:34 Gefällt mir


Mala Iyer

Danke an die beiden, die mir privat geschrieben haben, um mir zu sagen, dass sie meiner Meinung sind. An alle anderen, wenn wir wirklich in einer Demokratie leben, dann kann ich über Jobs schreiben, was ich will, und auch über seine Familie. Ich wünsche ihnen allen ja aufrichtig das Beste. Ein Tod ist niemals leicht, besonders ein vorzeitiger durch eine Krankheit, aber ich nehme es Leuten übel, wenn sie sagen, ich hätte aus irgendeinem unangebrachten Respekt für die kürzlich Gestorbenen nicht das Recht, einen Standpunkt einzunehmen. Wir sollten nicht vergessen, dass Apple-Produkte in schlimmen ausbeuterischen Ausbeuterbetrieben hergestellt werden, und zweitens, tut mir leid, aber Steve Jobs war kein Edison oder Da Vinci. Er war *kein* Wissenschaftler oder Erfinder. Er war im besten Fall ein Innovator und ein CEO. Ich will nur sagen, dass wir Innovation und Design auf *Kosten* von Wissenschaft und Kunst anbeten. Wir haben einen Kult um Image und Marken erschaffen. Eure Freunde und Familien sollten die Magie in eurem Leben sein, und nicht ein bescheuertes Telefon.

9. Oktober 2011 um 9:54 Gefällt mir


Mala Iyer

@Claire Yahlty Beleidige mich nicht, Claire. Ich bin nicht dein Feind. @Frank Sorrell Wie kannst du es wagen, mich mit Goebbels zu vergleichen, der für den Tod von Millionen Menschen verantwortlich ist! Ich glaube kaum, dass ein Post auf Facebook mit der Endlösung verglichen werden kann. Pardon, Frank, aber das ist schlichtweg ignorant. @David Kohli David, fick dich auch. Dein Sohn kann selbst denken. Und auch du solltest das mal probieren.

9. Oktober 2011 um 10:12 Gefällt mir


Wir, die Community aus Apple-Usern, Glauben, dass Mala Iyer eine Schlampe ist und Sich beim Kurz Von uns gegangenen Genie Steve Jobs und bei seiner Familie und seinen Freunden Entschuldigen sollte

Offene Gruppe - appleuser@groups.facebook.com

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Peter Cummings

Also ehrlich, gibt es nicht irgendein Gesetz, mithilfe dessen wir diese Frau drankriegen können? Wir haben doch Gesetze in England, oder? Weil die kann doch nicht einfach so davonkommen? Ich meine, wenn man etwas Schlechtes über den Holocaust sagt, nicht dass ich das wollte, aber dann schließen die dich fürs Leben weg. Und Gott behüte, einer sagt bloß ein Wort gegen Schwule oder Schwarze. Aber gegen einen Prominenten, selbst wenn er praktisch ein Heiliger war? Fühlt sich an, als ob auf der ganzen Welt die Lichter ausgehen und es echt immer dunkler wird. Ich fühl mich einfach so machtlos.

Gefällt mir Kommentieren Teilen 13. Oktober 2011 um 15:32

Hiroki Kawabata, Jim Tale und 42 anderen gefällt das.


Richard Clivesdale

Wer will sich morgen alles treffen? Schreibt mich privat an zwecks Treffpunkt.

Gefällt mir Kommentieren Teilen 13. Oktober 2011 um 16:21


Charles „Xavier“ French

Weiß hier jemand, warum das MacBook Air kein optisches Laufwerk hat? Das Air Superdrive kostet 60 Pfund, was vertretbar ist, aber kann ich damit auch Audio-CDs rippen? Und ist es kompatibel mit meinem MacBook Pro?

Gefällt mir Kommentieren Teilen 13. Oktober 2011 um 16:35


Richard Clivesdale Charles

versteh bitte, dass diese Gruppe zum einzigen Zweck gegründet wurde, um Mala Iyer für ihr verachtenswertes Verhalten zur Verantwortung zu ziehen, und nicht zum Zwecke der allgemeinen Diskussion über Apple-Produkte, Apple-Software usw. Aber um deine Frage zu beantworten, ja, du kannst Audio-CDs rippen, aber Blue-ray geht nicht. Und nein, es ist nicht mit deinem MacBook kompatibel, und zwar nicht wegen der aktuellen Requirements, sondern wegen des benutzerdefinierten Motherboards, das aber austauschbar ist.

13. Oktober um 17:03 Gefällt mir


Anthony Daniels

Charles, das MacBook Air kann kabellos CDs oder DVDs von einem anderen PC oder Mac lesen. Ich hätte ebenfalls sehr gerne ein optisches Laufwerk. Das ist ein Makel, was aber bei jedem bahnbrechenden Produkt unvermeidlich ist, oder vielleicht haben sie es auch als hinnehmbares Opfer angesehen, um das Notebook möglichst dünn und elegant zu halten. Ich muss sagen, es ist eines der schönsten Geräte, das mir je unter die Augen gekommen ist.

13. Oktober um 17:22 Gefällt mir


Kenny Baker

Es geht einfach darum, dass Apple Technologien aus dem Programm tilgt, von denen sie wissen, dass sie bald überflüssig sein werden. So haben sie das schon immer gemacht, wie zum Beispiel beim 5.5“ Floppy-Drive, und jetzt auch mit dem Ethernet Port, dem FireWire Port, dem Mikroanschluss. Das sind keine „Designfehler“. Sie beweisen einfach Steve Jobs’ legendäres Talent, in die Zukunft zu sehen. RIP Steve. Man muss mit der Zeit gehen.

14. Oktober um 10:24 Gefällt mir


Peter Cummings

Könnte jemand vielleicht MI’s Originalpost nochmal posten. Jemand noch mit ihr befreundet? (Wir brauchen wenigstens eine Person, die mit ihr befreundet ist, sonst haben wir keinen Zugriff auf ihre Seite.) Wir sollten nicht vergessen, dass das hier eine Gruppe ist und also jedes Mitglied Verantwortung hat und die Arbeitslast mittragen muss. Vielen Dank.

Gefällt mir Kommentieren Teilen 14. Oktober um 13:11


Sheila Giggins

Ganz genau, Peter. Ja, es scheint, dass viele hier nicht ihren Beitrag leisten. Aber meine Frage ist, und sorry, wenn das jetzt defätistisch rüberkommt, aber können wir wirklich etwas erreichen? Ich glaube fest daran, dass am Ende die Gerechtigkeit siegt, aber im Moment scheint es hoffnungslos. Ja, wir können dieser scheußlichen Frau alle eine PM senden, aber führt das nicht nur dazu, ihr eh schon aufgeblähtes Ego noch weiter aufzublasen? Ich bin mir gar nicht sicher, ob sie diese Gruppe überhaupt schon wahrgenommen hat. Hätte sie dann nicht was gepostet? Keine Ahnung, das ist alles nicht ganz koscher. Vielleicht ist sie gar nicht mehr auf Facebook. Oder vielleicht ist es ihr einfach egal. Wieauchimmer, wir müssen Alternativen in Erwägung ziehen. Entschuldigt meinen etwas unklaren Post. Nur „laut gedacht“.

14. Oktober um 23:42 Gefällt mir


Shahid Khan

@Sheila Giggins Denkst du, was ich denke?

14. Oktober um 23:45 Gefällt mir


Sheila Giggins

Höchstwahrscheinlich ja. Will aber nicht die sein, die es ausspricht.

14. Oktober um 23:47 Gefällt mir


Shahid Khan

Dann mache ich es. Habe großen Verdacht, dass sie für Microsoft arbeitet.

14. Oktober um 23:51 Gefällt mir


Peter Cummings

Ich schlage vor, wir atmen alle einmal kräftig durch. Das sind schwerwiegende Anschuldigungen, und die Facebook-Plattform eher nicht so geeignet dafür. Wir können das beim Treffen persönlich besprechen.

15. Oktober um 00:01 Gefällt mir


Status

Was machst du gerade?


Mala Iyer

Es tut mir leid, aber das geht zu weit. Vor ein paar Tagen habe ich eine völlig vertretbare Kritik an den Reaktionen zum kürzlichen Tod des Apple CEO Steve Jobs gepostet. Anstatt dass mein Recht auf freie Meinungsäußerung respektiert wird, habe ich Hassbotschaften erhalten, inklusive Emails an meine private und an meine Arbeitsadresse, darunter solche von anonymen oder sich hinter Pseudonymen versteckenden „Hatern“. Mir ist auch nicht entgangen, dass es eine Facebookgruppe gibt, die kein anderes Ziel hat, als mich zu verunglimpfen, von der ich beschimpft und sogar bedroht wurde. Das ist so offensichtlich nicht akzeptabel, und ich habe Facebook wegen dieses Problems gemailt und aufgefordert, diese Gruppe zu entfernen. An alle meine sogenannten „Freunde“, die mein Originalpost geleakt haben: Seid so freundlich und löscht mich aus eurer Freundesliste. An alle unter euch, die mich unterstützt haben, und es gab da einige: Ich danke euch, doch zu viele Leute haben mich in den letzten Tagen angegriffen, darunter viele, die ich als echte Freunde angesehen hatte. Offen gesagt, bin ich

Gefällt mir Kommentieren Teilen 15. Oktober 2011 um 10:19


Mala Iyer

schockiert über die Reaktionen auf meinen Post, von dessen völliger *Unschuld* ich noch immer überzeugt bin. Ich bin eine Doktorandin und an den Geist freier Forschung und Debatte gewöhnt. Woran ich nicht gewöhnt bin, sind diese mutwilligen Versuche, mich durch Drohungen, Einschüchterung und Missbrauch zum Schweigen zu bringen. Was ich nicht hinnehme: öffentlich eine Schlampe genannt oder mit Mördern und Nazis verglichen zu werden. Dieses Verhalten ist so unmoralisch wie idiotisch. Ich bin Steve Jobs nie begegnet, aber es tut mir leid, dass er gestorben ist, und ich wünsche seiner Familie und seinen Freunden nur das Beste. Aber ich werde nicht aufhören, daran zu glauben, dass es mein demokratisches *Recht* ist zu sagen, dass Apple-Produkte überschätzt werden und dass die Trauerwelle nach seinem Tod unangebracht und hysterisch ist.

Gefällt mir Kommentieren Teilen 15. Oktober 2011 um 10:26


Hardeep „dünner Jim“ Singh

Mala, du tust dir mit diesen Posts keinen Gefallen. Entschuldige dich einfach, und wir lassen es dann alle auf sich beruhen. Ich persönlich mag es nicht, diese Updates zu lesen, und will nicht ständig in den Sumpf dieser Debatte gezogen werden. Ich habe dich immer sehr respektiert, aber sorry, Malaji, in dieser Sache liegst du einfach falsch. Mach das Richtige, entschuldige dich, und dann halt einfach freundlicherweise das M**l.

15. Oktober um 10:35 Gefällt mir

Lucy Manningtree und Ola Martin gefällt das.


JD Richey

ich liebe alle tiere, denn sie nehmen nie an esswettebewerben teil, sie töten nicht wenn sie keinen hunger haben, sie schlafen nie mit mädchen die sie nicht lieben (weil man eh nie weiß, was liebe ist) und sie sind keine Christen. aber wir, die menschen, sind sowieso besser als sie, weil wir trinken, und wir werden betrunken, mamafischermamamamiiiiiiiiia

15. Oktober um 10:42 Gefällt mir

Mala Iyer gefällt das.


Christian Seleko

Mala, ich stimme dir zu, dass viele der Anworten auf deinen Post geschmacklos waren, voreilig und dünnhäutig, aber so ist das oft, wenn Trauer herrscht. Bitte gestatte mir, dir zu erklären, wie ich mich fühle, und vielleicht wirst du von da aus einen Einblick in die Gefühle anderer gewinnen können. Vor sechs Monaten bin ich zu einem Mac konvertiert, und ich kann ehrlich behaupten, dass es mein Leben verändert hat. Alles, was ich je wollte, ist ein zuverlässiger Computer, der nicht einfriert, laute Geräusche macht, wichtige Dokument löscht, überhitzt oder in seine Einzelteile zerfällt. Jetzt habe ich ihn endlich. Vor einem Monat schickte mir ein Freund Steve Jobs’ „Find What You Love“-Rede an der Stanford University. Seine Worte und seine Botschaft haben mich inspiriert und motiviert. Ich bin tieftraurig über sein Ableben, da ich weiß, wie viel mehr er dieser Welt noch hätte geben können. In Erinnerung an Steve.

15. Oktober um 11:02 Gefällt mir

Lucy Manningtree und Hardeep „dünner Jim“ Singh gefällt das.


Mala Iyer

Vor einer Stunde wurde mein Laptop im Grand Café an der Oxford High Street gestohlen. Der Dieb hinterließ einen Zettel: „Kauf dir nächstes Mal einen Mac.“ Was zum Teufel stimmt nicht mit euch??? Das sind Hassattacken am hellichten Tag, und es war MEIN EIGENTUM. Wie könnt ihr es wagen!!! Ich habe die Sache zur Anzeige gebracht, und die Polizei ermittelt gegen die „Ich hasse Mala“-Gruppe. Facebook hat auf meine Beschwerde noch nicht geantwortet, aber jetzt, wo die Polizei eingeschaltet ist, werden sie die Sache wohl hoffentlich so ernst nehmen wie ich. Werauchimmer das war, ICH HABE ES SO SATT!!! Ihr könnt mich nicht mutwillig angreifen, weil ihr meiner Meinung über einen Prominenten nicht zustimmt. Ja, über einen PROMINENTEN, keinen HEILIGEN.

15. Oktober um 13:48 Gefällt mir

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Wir, die Community aus Apple-Usern, Glauben, dass Mala Iyer eine Schlampe ist und Sich beim Kurz Von uns gegangenen Genie Steve Jobs und bei seiner Familie und seinen Freunden Entschuldigen sollte

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Mala Iyer

Ich, Mala Iyer, entschuldige mich öffentlich und vorbehaltlos für all die Beleidigungen, mit denen ich Steve Jobs’ Freunde, Familie, Bewunderer und seine zweite Familie bei Apple angegriffen habe. Meine Kommentare waren Bösartigkeit, Ignoranz und Dummheit geschuldet, und ich nehme die verleumderischen Kommentare restlos zurück, welche ich über Mr. Jobs und den Apple-Konzern gemacht habe, die, wie ich anerkenne, einen großen Beitrag zur Menschlichkeit geleistet haben. Ich kann nur hoffen, einen Bruchteil von dem zu erreichen was sie geleistet haben und habe aus dieser Erfahrung wirklich gelernt möchte allen danken, die interveniert haben um mich wieder zur Vernunft zu bringen. Ich entschuldige mich aus ganzem Herzen und will auf jeden Fall versuchen, es irgendwie wieder gutzumachen. Mala Iyer.

Gefällt mir Kommentieren Teilen 15. Oktober um 14:32

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Peter Cummings

Mala, ich bin erfreut und erleichtert, dass du wieder bei Sinnen bist. Der jugendliche Geist der Antihaltung hat, wiewohl wertvoll in einer bestimmten Lebensphase, keinen Platz in der Erwachsenenwelt, wo reale Gefühle und reale Menschen betroffen sind, insbesondere solche, die erst kürzlich gestorben sind. Du hast Hunderten von Menschen schwere, tiefe Verletzungen zugefügt, wenn nicht Tausenden, und der Schmerz, den du aktuell spürst, ist, fürchte ich, nichts im Vergleich zu dem Schmerz, den du ausgelöst hast. Versuche in Zukunft bitte, die Konsequenzen deines Handelns abzusehen. Wir leben alle in derselben Welt, und eine harmonische Gesellschaft zu schaffen, war Teil des Lebenswerk von Männern wie Steve Jobs, Nelson Mandela und dem Dalai Lama. Bitte sieh davon ab, jemals wieder derartige Zwietracht zu säen. Du wurdest gewarnt.

15. Oktober um 14:57 Gefällt mir


Shahid Khan

Hört, hört, Peter! Aber sag mir mal, wie wir sicher sein können, dass die „Entschuldigung“ von Ms. Iyer wirklich aufrichtig ist? Viele Menschen brechen unter Druck einfach ein, vor allem solche mit schwachem Charakter. Ich persönlich bin nicht überzeugt.

15. Oktober um 15:02 Gefällt mir


Peter Cummings

Shahid, ich möchte doch vorschlagen, dass wir nicht so tun, als wüssten wir, was in den Herzen anderer vorgeht. Mala hatte kein Recht, die Wahrhaftigkeit von Apples geliebtem CEO zu bezweifeln, aber genauso wenig haben wir das Recht, sie vorzuverurteilen. Soweit ich sehen kann, ist ihre Entschuldigung echt. Ich kann ihr nicht vergeben, aber ich bin bereit, ihre Entschuldigung zu akzeptieren. Öffne dein Herz und tu dasselbe.

15. Oktober um 15:40 Gefällt mir


Shahid Khan

Du bist ein besserer Mensch als ich, Peter. Friede sei mit dir.

15. Oktober um 15:45 Gefällt mir


Peter Cummings gefällt das.

Richard Clivesdale

OMG!!!! Schäm dich, Peter. Du bist ein tougher, mit allen Wassern gewaschener Typ und blickst bei diesem Müll nicht durch? Ich bitte dich!!!! Wenn das eine echte Entschuldigung ist, können wir Gaddafi auch gleich den Friedensnobelpreis geben. Ich erkenne Bullshit auf den ersten Blick, und der hier stinkt zum Himmel. Wenn sie wirklich gewillt ist, es wiedergutzumachen, soll sie Apple etwas spenden und den Beleg hier hochladen. *Das* glaube ich dann, wenn ich es sehe.

15. Oktober um 16:01 Gefällt mir


Mark Wycliffe

Die Schlampe will sich nur Freunde machen. LOL.

15. Oktober um 16:09 Gefällt mir


Richard Clivesdale gefällt das.

Sheila Gibbins

Sorry, wenn ich darauf herumreite, aber bin ich die einzige, die in dem Ganzen noch ein ganz anderes Gefahrenpotential sieht? Unaufrichtig? Offensichtlich! Aber inwiefern unaufrichtig? Ich weiß, das hier ist eine offene Gruppe, Richard, aber muss ich es denn ausbuchstabieren????

15. Oktober um 16:15 Gefällt mir


Peter Cummings

Sheila, ich weiß nicht. Es tut mir leid, wenn ich eure Zeit vergeude, aber ich will nur fair bleiben. Und ganz sicher verdient jeder, egal wie fehlgeleitet, eine zweite Chance.

15. Oktober um 16:33 Gefällt mir


JD Richey

Freiheit für Ai Weiwei, freies Tibet, freie Pornos! Jedes Arschloch verdient eine zweite Chance, aber verdient jede zweite Chance ein Arschloch? Schwäche ist nicht lebensnotwendig, aber Feigheit ist es. Ihr wisst, dass das die Wahrheit ist. Ihr wisst, dass ihr es seid. Uhohuhohuhoh …

15. Oktober um 16:34 Gefällt mir


Jim Tale

Sorry Leute, aber ich glaube ihr und kann ihr auch, im Gegensatz zu Peter, vergeben. Willkommen, Mala.

15. Oktober um 16:50 Gefällt mir


Peter Cummings und Stephanie Weather gefällt das.

Stephanie Weather

Sollen wir diese Gruppe dann nicht schließen? Wenn es vorbei ist, dann sollten wir es einfach hinter uns lassen. @Sheila Gribbins Und wenn sie eine ist, na und????

15. Oktober um 16:54 Gefällt mir


Mala Iyer

OMG, ihr seid solche IDIOTEN! Ist doch klar, dass ICH DIESE ENTSCHULDIGUNG NICHT GESCHRIEBEN HABE! Mein Laptop wurde von irgendwelchen Fanboys in Rollkragenpullovern gestohlen und ich war noch immer bei Facebook eingeloggt. Habt ihr Versager nichts Besseres zu tun? Warum geht ihr nicht alle runter zum Applestore und kauft euch endlich selbst ein beschissenes Leben?!!!??

15. Oktober um 16:57


Peter Cummings

Ms. Iyer, die Community der Apple-User lässt sich von Ihrer Fäkalsprache nicht beeindrucken, und auch nicht von Ihrer abscheulichen Gefühllosigkeit angesichts des Todes eines der größten Erfinder unserer Zeit. Bitte sehen Sie freundlicherweise davon ab, in Zukunft auf dieser Seite zu posten. Wir sind, als Community, in Trauer, und das Mindeste, was Sie tun könnten, ist dies zu respektieren. Ich bin heute Morgen übrigens tatsächlich zum Applestore gegangen, aber ich habe mir dort kein Leben gekauft, weil ich bereits eines habe. Sie sind es, die Versäumnisse in die Richtung hat, und saure Trauben isst man am besten mit süßen Brötchen. RIP Steve, und falls Du uns zuschaust, tut es mir von Herzen leid.

15. Oktober um 17:12 Gefällt mir


Jim Tale

@Mala Iyer Poste noch einmal auf dieser Seite, und ich rufe die Polizei. Entsetzlich.

15. Oktober um 17:30 Gefällt mir


Mark Wycliffe

Ja, poste nochmal was auf dieser Seite und ich stech dich ab wie ein Schwein du Dreckshure. Scheißmenschen wie du sollten tot sein.

15. Oktober um 17:38 Gefällt mir

Richard Clivesdale, JD Richey und 12 anderen gefällt das.


Mala Iyer

@Mark Wycliffe Ist das alles? Erbärmlich!!! Lass dir doch ein paar iHoden wachsen.

15. Oktober um 18:04 Gefällt mir


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JD Richey

Zerhaut die Kameras, die Überwachungskameras. Tretet die Schweine in die Tonne. Zerschmettert sie, spießt sie auf, tretet ihnen in die Eier, zeigt ihren Schnüffelfressen, was ein Schläger ist. Los, machen wir’s, lasst uns mit dem Aluminiumblut herumspritzen oh yeah oh yeah oh yeah

15. Oktober um 18:10 Gefällt mir


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Was machst du gerade?


Mala Iyer

Mein Arm, nach dem Krankenhaus

Mala Iyer hat 2 neue Fotos zum Album Mobile Uploads hinzugefügt

Mobile Uploads

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Ameena Iyer

OMG, Malaliebes, was ist passiert? geht’s dir okay? xxx

vor 3 Stunden Gefällt mir Als Freund hinzufügen


Ashish Iyer

Mala, ruf mich sofort an, wenn du das hier liest. Mama macht sich Sorgen. Was ist denn bloß passiert? Ruf an! Wir lieben dich.

vor 2 Stunden Gefällt mir Als Freund hinzufügen


Christian Seleko

Erschütternd, aber auf schräge Weise schön. Wo hast du das machen lassen?

vor 58 Minuten Gefällt mir Als Freund hinzufügen


Mala Iyer

Das habe ich nirgendwo machen lassen, Christian, kannst du das nicht sehen? Zwei Männer sind in meine Wohnung eingebrochen und haben mir das angetan @Ashish Iyer Habe Mama angerufen und beruhigt. Warum hast du ihr überhaupt das Bild gezeigt? Ja, mir geht’s gut. Rufe später an. Muss bis 9 nochmal im Krankenhaus sein. Telefon bis dann aus.

vor 40 Minuten Gefällt mir Als Freund hinzufügen


Ashish Iyer

Das tut mir leid. Bitte ruf mich so bald wie möglich an. Sollen wir rüberfliegen?

vor 52 Minuten Gefällt mir Als Freund hinzufügen


Mala Iyer

@Ashish Iyer Rufe heute abend an mach dir keine Sorgen. Nein, ihr müsst nicht rüberfliegen. Ich kann auf mich selbst aufpassen. Aber danke.


Wir, die Community aus Apple-Usern, Glauben, dass Mala Iyer eine Schlampe ist und Sich beim Kurz Von uns gegangenen Genie Steve Jobs und bei seiner Familie und seinen Freunden Entschuldigen sollte

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Mala Iyer

So, Ihr alle, jetzt hört Ihr mir mal zu. Gestern gegen drei Uhr am Nachmittag brachen zwei Männer in mein Zimmer im Brasenose College, Oxford, ein. Ich glaube, dass es dieselben waren, die meinen Laptop geklaut haben. Sie waren jedenfalls alle wie Steve Jobs gekleidet. Egal, sie haben mich an einen Stuhl gefesselt und meinen Arm mit dem Apple-Logo gebrandmarkt. Ganz genau, GEBRANDMARKT. Ich habe sie der Polizei beschrieben, und da zwei von ihnen (und ICH WEISS, dass sie in dieser Gruppe sind) doof genug waren, ihre Masken überzuziehen *nachdem* ich sie hereingelassen hatte, wird die Polizei sie schon bald finden. Aber was ich wirklich sagen will, ist Folgendes. An alle, die mir weismachen wollten, ich hätte kein Recht auf meine Ansichten, an alle, die mich beschimpft haben, die dieser widerlichen Hassgruppe beigetreten sind, die missbräuchlichen Dreck auf meine Seite gepostet haben … IHR HABT DAS GETAN. Sagt nicht, ihr wart es nicht, denn ihr wart es. Ihr wisst, wer ihr seid.

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3.

„Ajay, wir kriegen ein Kind.“

Mehr sagte sie nicht. Also küsste und umarmte ich sie und dachte: „Was zur Hölle soll ich jetzt bloß tun?“

Ich hatte meinen Job am Abend zuvor verloren, ich wollte es ihr am Morgen verkünden, aber dann kommt der Morgen, und sie sagt mir sowas. Also lächle ich das aufgesetzteste Lächeln, das ich besaß, was ihr in ihrem ebenfalls lädierten Geisteszustand nicht auffiel, und gehe nach oben und ziehe die Uniform an.

Pizza Hut hatte mein Moped einbehalten, aber ich machte eine große Show aus dem Aufsetzen meines Helms und klimperte theatralisch mit den Schlüsseln. Sie hatten auch meine Lohntüte. Wegen Diebstahls entlassen. Das würde ich ihr gewiss nicht sagen. Die Wahrheit ist, dass ich es gar nicht getan habe, aber das spielt jetzt keine Rolle.

Wir küssten uns nochmals an der Tür. Tränen standen in ihren Augen, Schrecken in meinen. Ich überlegte, ob ich ins Kino gehen sollte, aber ich hatte zwölf Pfund, keinen Job und ein Kind, das unterwegs war, also streunte ich einfach um Mile End herum. Als die Sonne kaum noch wärmte, nahm ich die U-Bahn Richtung Ealing Broadway. Ich stieg nicht aus. Wartete, dass sie wieder zurückfuhr.

Ich dachte darüber nach, wie unfair es war, dass sie mich gefeuert hatten. Aber vor allem dachte ich daran, dass ich Vater sein würde. Ich war wütend und verzweifelt und mit ein paar Leuten in einer Bahn gefangen, die nichts Wichtigeres zu tun hatten, als darüber nachzudenken, in welches Restaurant sie am Abend gehen würden. Ich hasste Pizza Hut, und ich hasste sie.

In Shepherd’s Bush stieg ich aus und irrte in die Westfield Mall, starrte durch Schaufenster auf Dinge, die ich mir nicht leisten konnte. Ich versuchte mir einzureden, dass ich ein iPad gar nicht brauchte, aber wen wollte ich damit verarschen? Die Apple-Kids kamen in Scharen aus dem Laden, sie konnten unter all der Hardware, die sie trugen, kaum mehr gehen. Ich hingegen hatte nicht mal mehr ein Handy: Ich hatte die Rechnung nicht bezahlt. In den oberen Stockwerken gab es ein Kino, und ich ging mal hin, aber ein Ticket kostete so viel wie zweiundzwanzig Windeln. Es gab sowieso nur James Bond, und ich hasse James Bond. Zwei Anwerber der Armee standen in der Lobby, wahrscheinlich in der Hoffnung, der Film würde jemanden inspirieren, selbst Menschen töten zu wollen. Ich dachte eine Sekunde drüber nach. Einer der Anwerber, mit roten Haaren und stacheligen Armen, sah mich zögern.

„Interessiert, Alter?“, sagte er.

Ich schüttelte den Kopf.

„Ich werde Vater.“

„Kein Problem! Viele von uns sind Papis.“

Aber ich ging zurück zur U-Bahn.

In Holborn hob ich einen weggeworfenen Evening Standard auf und fing an, ihn durchzublättern.

Ein Artikel fiel mir besonders ins Auge. Ein Mann, ein schwarzer Mann, war aufgrund zweier Anklagepunkte festgenommen worden. Erstens, Zerstörung öffentlichen Eigentums. Er hatte eine Überwachungskamera zerschlagen. Mit einem Baseballschläger. Hatte sie richtig vermöbelt. Sie hatten ihn dabei gefilmt, also konnte er sich nicht beklagen, aber es war der zweite Anklagepunkt, der richtig krank war. Halt dich fest: rassistisch motivierter Übergriff. Wie konnte sowas rassistisch sein? Es war eine Scheißkamera, gottverdammt.

Ihre Logik: Er war schwarz; er war wütend; er war schuldig; es war rassistisch. Scheißidioten. Sie hatten die Anklage fallenlassen müssen, natürlich. Eine Kamera hat keine ethnische Herkunft.

Ich schau mich um, und da sind nur Anzugträger in der U-Bahn - wir sind jetzt in der City -, und gelegentlich haben wir Blickkontakt, und ich sehe, wie sie lachen. Sie wissen, dass ich verzweifelt bin, sie wissen, dass ich ein Pizzaboy bin, und sie wissen, dass ich ein Paki bin, und sie finden das witzig. Ich denke an den Mann in der Zeitung und sage mir: Ajay, was immer du auch tust, mach es richtig. Wenn du das Gesetz brichst, gebrauch deinen Kopf, zerschlag nicht einfach eine beschissene Kamera.

Und dann heckte ich Folgendes aus.

Ich würde an der Liverpool Street aussteigen und in eine Bar gehen und auf der Toilette warten, bis einer von ihnen ganz allein wäre, und ich würde dann so tun, als hätte ich ein Messer, würde mein bösartigstes Gesicht aufsetzen und ihm sein ganzes Bargeld abnehmen.

Das war Plan A.

Ich wusste nicht, dass es noch B, C und D geben würde. Noch nicht.


Also sitze ich in der Bar, auf einem Sofa beim Fenster. Die Bar wimmelt nur so von Anzügen, und ich bin in meiner Uniform, aber niemand sieht mich schräg an. Ein Mann und eine Frau teilen sich einen Sessel zu meiner Rechten und verschütten Weißwein. Bei ihrem Gespräch wird mir übel. Vierradantriebe und Wintergärten. Mir fällt ein, dass eine weibliche Anzugträgerin ein leichteres Ziel sein könnte, aber ich verwerfe den Gedanken.

Zwei Männer nähern sich meinem Sofa und setzen sich dann breitbeinig hin, nehmen erheblich mehr Platz ein als die ihnen zustehenden zwei Drittel. Ich fühle mich, als müsste ich gleich kotzen. Da bin ich nun, in die Ecke gedrängt, dankbar dafür, dass sie mich existieren lassen. Also stehe ich auf. Es ist Zeit.

Ich spanne meinen Bizeps an und gehe nach unten, zu den Toiletten.

Ich hätte hierdrin ein paar Springbrunnen erwartet und vielleicht eine Eisskulptur, aber es ist einfach eine Toilette. Zwei Anzugträger stehen am Pissoir, einer von ihnen spricht in ein Handy. Ich stehe am Waschbecken, gehe mir mit den Fingern durch die Haare, bis nur noch ein Anzugträger da ist. Er zieht den Reißverschluss hoch und steht dann neben mir.

Rote Haare. Einssiebzig. Brille. Sieht schmächtig aus. Gut.

Ich verzichte auf Drohgebärden und gehe ihm gleich ans Jackett, reiße es auf und greife nach seinem Portemonnaie. Er scheint nicht überrascht zu sein. Starrt mich nur an, packt dann meinen Arm. Ich versuche, gegen sein Schienbein zu treten, doch schon presst er mein Gesicht gegen den Spiegel. Und dreht und dreht. Mein Arm bricht gleich.

„Lass ihn los“, sagt eine Stimme hinter uns.

„Nee, Kumpel“, sagt der Anzugträger. „Der will mir mein Geld klauen.“

„Ja, Freund; ich hab’s gesehen“, sagt die Stimme. „Überlass mir das.“

Der Anzugträger schaut kurz nach hinten, lässt dann los, sagt “Sorry“ und saust wie ein Windhund davon. Ich falle nach vorne gegen das Waschbecken, drehe mich um und gucke.

Er trägt Jeans und ein graues Seidenhemd, eine fette Golduhr am Handgelenk. Er hat ein Tattoo auf der linken Gesichtshälfte, das sich wie ein Krummsäbel um sein Auge wölbt. Er schaut mich ohne jegliche Gefühlsregung an. Schaut nur. Vielleicht habe ich mich eingepinkelt; ich kann’s nicht sagen. Ich scheine überhaupt nichts mehr fühlen zu können.

„Mach die Augen auf, Mann. Ich schlage dich nicht. Du denkst, nur weil ich Mike Tyson bin, schlage ich dich jetzt?“

„Nein“, sage ich. „Nein, Sir.“

„Sieh mich an“, sagt er. „Sieh mich an, ohne wegzusehen.“

Ich breche fast in Tränen aus, aber ich versuche es.

„Ich werd dir nicht wehtun, okay? Ich will dir nur eine Frage stellen. Was genau hast du da gerade versucht, bei dem Typen?“

„Weiß nicht“, sage ich. „Vielleicht sein Portemonnaie bekommen.“

„Und dann?“

„Sein Geld nehmen.“

„Und dann?“

„Mich besser fühlen“, sage ich.

Mike lacht.

„Komm mit nach oben.“


Wir sitzen auf dem Sofa, Mike und ich, und diesmal meldet niemand Anspruch auf unseren Platz an. Er hat mir einen Martini ausgegeben. Ich kann den Anzugträger von der Toilette nicht sehen; ist wahrscheinlich abgehauen, was ich auch getan hätte, wäre ich in der Lage dazu gewesen.

„Also, Pizza Hut sagt, du hast es gestohlen?“

„Genau.“

„Aber hast du nicht?“

„Nein.“

„Weil du kein Dieb bist.“

„Genau.“

„Und was hast du dann da unten gemacht?“

„Was anderes.“

„Das geht so nicht“, sagt Mike. „Du musst tun, was du bist, wo du richtig gut drin bist. Ich habe früher Leute in New York ausgeraubt, aber das ist nicht das, wofür ich auf dieser Erde bin. Wenn ich im Ring stehe, bin ich ein Gott. Auch du musst ein Gott sein.“

„Ich kann nicht kämpfen.“

„Ja, ach was.“

Ich sehe auf meine Schuhe.

„Also gebrauch deinen Kopf. Das Leben ist ein spiritueller Kampf, kein physischer. Jeder Kampf, den ich gewonnen habe, war schon vorbei, bevor ich in den Ring stieg. Du musst sie überlisten …“ Er deutet auf die Anzugträger. „Wenn du das nicht tust, vernichten sie dich, so wie sie es mit Michael Jackson getan haben. Du weißt, was mit Michael Jackson geschehen ist?“

„Klar.“

„Sie haben ihm gesagt, er sei ein Spinner, ein Kauz, ein Freak. Und was ist passiert? Er hat sich das ganze Gesicht versaut. Er ist gestorben. Nur, weil er auf sie gehört hat. Sie sagen dir, du bist ein Dieb und ein Tier, und wenn du deinen Kopf nicht gebrauchst, wirst du zu einem Dieb und zu einem Tier. Im Gefängnis sah ich, was Menschen einander antun können, und ich konnte es nicht glauben. Und alles nur, weil sie sich die Scheiße anhörten, die man über sie sagte.“

„Meine Frau ist schwanger“, sagte ich zu ihm.

„Deshalb muss du mit all dem aufhören. Weil, glaub mir, dir könnten eine Menge schlimmerer Dinge passieren, als nur den Job zu verlieren. IM ZUCHTHAUS READING BEI READINGSTADT / GRUB DIE SCHMACH EIN SCHÄNDLICH GRAB. / MIT FLAMMENDEN ZÄHNEN FRISST UND FRISST / DAS BAHRTUCH DIE KNOCHEN AB. Du darfst es nicht zulassen, zu diesem Sünder zu werden. Du musst deinen Kampf gewinnen, für deine Frau und für dein Kind. Füll dein Herz mit Liebe und deinen Kopf mit Gedanken. Sei ein Mann voller Seele, kein Narr.“

„Okay.“

„Verstanden?“

„Verstanden.“

„Alles klar. Pass auf dich auf, Ajay. Erinnere dich an meine Worte.“

„Jep. Hey, danke, Mike.“


Ich hatte gerade noch genügend Geld für einen weiteren Martini übrig, an dem ich nippte, während ich über das nachdachte, was Mike gesagt hatte. Er hatte recht. Ich war dumm gewesen. Du musst sie überlisten … Das hatte ich mir selbst bereits gesagt. Zerschlag nicht einfach eine beschissene Kamera.

Was also konnte ich tun? Was konnte ich tun?

Doch dann … fiel mir Plan B vor die Füße, einfach so. Ein Anzugträger hatte sein Portemonnaie verloren, und nicht einer von ihnen hatte es bemerkt.

Ich stand auf, schüttelte mich und stürzte das Glas runter. Der Alkohol half.

Lautlos wie eine Katze schlich ich hin, ließ meine Schlüssel fallen, ging in die Knie, nahm die Schlüssel in die linke Hand, die Geldbörse in die rechte, und steckte beides in meine Hosentaschen. Mission erfüllt. Ich ging auf die Bar zu, wollte die Richtung nicht ändern. Mein Plan war, noch ein wenig herumzuhängen, auf meine Uhr zu schauen, dann zu flüchten, nach Hause, und dort zu sehen, was ich erbeutet hatte.

Aber so passierte es nicht.

Plan C wartete auf mich, an einer Wand lehnend. Der Anzugträger, dessen Geldbörse ich in meiner Hosentasche hatte, attackierte seinen Körper wie ein Affe im Zoo. Mit quietschender Stimme schrie er.

Scheiße, mein Portemonnaie ist weg. Ich habe mein Scheißportemonnaie verloren.

Seine Kumpel versuchten ihn zu beruhigen, doch keiner bot an, ihm einen Drink auszugeben.

Irgendein Scheißwichser wird es haben. Ganz klar. Irgendein Scheißwichser.

Wie, fragte ich mich, sollte ich diese Ärsche denn nicht hassen? Sie hassen einander. Sie hassen sich selbst. Für sie ist jeder Mitmensch ein Scheißwichser.

Seine Kumpel sagten ihm, er solle es suchen, aber davon wollte er nichts wissen. Es kam ihm nicht in den Sinn, dass es noch dort auf dem Boden liegen könnte, wo er es fallen gelassen hatte. Es machte ihn so fertig, dass er ging, einfach so.

Auch ich ging. Plan C.

Ich würde ihm nach Hause folgen und an seine Tür klopfen. Ich würde sagen: Sir, ich habe Ihr Portemonnaie gefunden, und aufgrund meines guten Wesens helfe ich Ihnen jetzt. Und er würde sagen: Gütiger Gott, Sie sind ein echter Menschenprinz. Leute wie Sie beschämen uns. Neben Ihnen sind wir Wilde, wirklich. Kommen Sie rein, mein Freund, und lehren Sie mich das Leben. Und ich würde reingehen und ihn mit königlichem Glanz benetzen, und wenn ich ginge, würde er sich beschissen fühlen, und ich …?

Ich würde nach Hause gehen und es Preethi erzählen. Ich würde ihr erzählen, dass wir wie Kinder Gottes über diese Erde wandeln, nach dem, was passiert ist. Unser Kind würde stolz und groß sein, ein Kämpfer, ein Liebender, ein Heiliger. Und meine Frau würde wissen, dass ich noch immer der Mann bin, der ihr Herz vor all den Jahren für sich gewonnen hat. Mächtig, redlich, über all die materielle Scheiße erhaben. Ein Mann mit Manieren. Ein Mann mit Moral. Ein Mann mit Seele.

Also folge ich dem Scheißkerl. Ein Leichtes. Ich befürchtete, er könnte sich vielleicht ein Taxi schnappen, aber das macht er nicht. Er geht schnell, verflucht den Scheißwichser, der sich die einzige Sache, die ihm je wichtig war, unter den Nagel gerissen hat.

Er ist in Bloomsbury zuhause, in einem ruhigen Hinterhaus. Als er hineingeht, schlüpfe ich ihm hinterher. Ich erwarte eigentlich einen Portier, der mir die Brust durchbohrt, aber da ist nur eine Reihe aus Briefkästen, ordentlich nummeriert und vollgestopft mit Briefen. Er will gerade seine Post herausholen, entscheidet sich dann aber dagegen - er ist zu sauer - und stampft wie ein bockiges Kind die Treppe hoch. Ich folge ihm, als wären Rosenblätter unter meinen Füßen.

Ich höre die Tür zuschnappen und warte ein paar Minuten, bis ich anklopfe. Er sieht wirklich sauer aus. Bevor ich meinen Mund öffnen kann, sagt er mir, er habe keine Scheißpizza bestellt. Genauso sagt er es, Scheißpizza. Ich bleibe ruhig und übergebe ihm seine Geldbörse. Aber die Worte kommen nicht richtig rüber. Ich bin zu hastig und nuschle, weil ich nervös bin. Seine Augen leuchten auf, als er die Geldbörse nimmt, hineinblickt, sein Geld zählt (zwei Fünfziger, drei Zwanziger und ein Fünfer), und … ich warte … aber nichts passiert. Nicht einmal ein Dankeschön, geschweige denn eine Belohnung. Wenn es nach ihm geht, kann ich mich verpissen.

Ich bin sein Boy, sein Lieferjunge. Heute sind es Geldbörsen, morgen wird es Pizza Sardellen mit Extrakäse sein. Ein Pizzajunge … ein kolonialer Bringerboy.

Ich folge ihm rein. Er sieht überrascht aus, aber was kann er dagegen machen? Er kann mich nicht rausschmeißen, nachdem ich ihm den glücklichsten Moment seines fauligen, kleinen Lebens verschafft habe.

Und was macht er dann? Er schenkt sich ein Bier ein und sieht mich nicht einmal an. Bietet mir nichts an. Nicht einmal Wasser. Ich stehe da und zittere angesichts der ganzen Demütigung, und er bemerkt es nicht einmal. Er hat seine Bang & Olufsen angemacht und trinkt sein Bier und wartet darauf, dass ich gehe. Also setze ich mich.

Das Telefon klingelt, und er springt auf und erzählt Jeremy, oder wer auch immer das ist, etwas über Aktienkurse, also stehe ich auf und gehe in die Küche und hole mir selbst ein beschissenes Bier. Und dann denke ich: Wo ich schon hier bin, kann ich mich auch gleich umsehen. In so einer Wohnung bin ich noch nie gewesen.

Also wandere ich durchs Apartment, und ja, es stinkt nach Geld, und ich bin im Schlafzimmer und schaue mir dieses Gemälde mit einem Porsche Cayenne drauf an, als mein Blick auf die Anrichte fällt und dort hängen bleibt. Plan D. Jack-fucking-pot.

Da liegt ein Goldarmband auf der Anrichte. Es ist von Diamanten übersät. Sie sind sehr groß. Der Mann - er hat mir noch immer nicht seinen Namen gesagt - redet am Telefon. Ich denke, nicht denken, machen!, und greife mir das Armband, gebe ihm einen Kuss und stecke es in meine Tasche.

Ich überprüfe, ob der Umriss in meiner Hose sichtbar ist, gehe dann zurück ins Wohnzimmer. Er ist nicht mehr am Telefon, und als ich sage, ich gehe, sieht er froh aus, der blasierte Wichser.

Doch als ich gerade gehen will, geht die Tür auf, und seine Frau kommt herein. Und sie ist eine Asiatin. Eine verdammte Asiatin. Sie ist, schon klar, sexy, langes Haar, enorme Augen, guter Körper (nicht, dass mich das kümmerte; das würde ich Preethi nie antun), und sie stellt sich vor - „Hi, ich bin Gopi“ -, und ich erzähle ihr, was passiert ist, und sie sagt: „Möchten Sie einen Tee?“

Ich kämpfe mit mir, stocke, murmle wie ein Idiot, und sie bietet Kaffee an, Bier, etwas zu essen, und ich bitte schließlich um Tee. Sie sieht ihn an, und er, der Wichser, geht weg, um Tee zu machen, flüstert einen Fluch. Schön, dass sie wenigstens die Hosen anhat, aber ich meine, warum musste dieses erstaunliche Geschöpf diesen, diesen … heiraten? Es kotzt mich an. Ich habe seinen Gesichtsausdruck mitbekommen. Seht mich an. Ich bin ein hässliches Arschloch, habe nur meine Kontakte und bin mit diesem tollen Paki-Schnittchen zusammen, und ihr könnt nichts dagegen tun!

Ich sträube mich. Ich kann die Wut in meinem Blut spüren, aber dieses Mädchen ist so reizend, so freundlich, dass ich mich in ihrer Gesellschaft wohlfühle. Wir reden über Filme und Eltern und kurz über Essen, und mein Tee kommt, und ich starre ihn wütend an, und er verpisst sich auf die Toilette, und ich sage mir: Ajay, dieses Mädchen leidet. Sie braucht einen Mann, der sie versteht, aber sie lebt mit diesem Bastard unter einem Dach.

Ich spüre keinen Groll. Ich bin einfach traurig. Ich möchte, dass dieses Mädchen glücklich ist, aber es geht ihr miserabel, ich kann es spüren. Doch wenigstens kann ich es nachempfinden. Wenigstens verstehe ich sie. Ich schlage ihr vor, vielleicht mal bei uns vorbeizukommen, um Preethi kennenzulernen (und bedeute ihr mit meinen Augen: Lass diesen Arsch zuhause, wenn es geht), und dann erinnere ich mich.

Ich habe das Armband dieses armen Mädchens in meiner Tasche, und jede Sekunde, die es hier sitzt, verliere ich den Kampf. Ich verrate Preethi, ich verrate mein Kind, ich verrate Mike.

Also muss ich das Armband jetzt aus der Tasche holen und es ihr zurückgeben. Das wird nicht einfach sein. Sie starrt mich an, plaudert mit dieser Kinderstimme, und jedes Wort ist wie ein Tautropfen, schwebt durch die Luft, bis es mein Herz trifft und zu Säure wird. Ich winde mich vor Schmerzen, und deshalb ist es auch keine Überraschung, dass sie mich ein paar Minuten später fragt, ob alles okay mit mir sei, ob sie mir etwas bringen könne. Ich sage nein, erkenne dann, zu spät, dass ich ja hätte sagen sollen - ich würde jetzt alles tun, damit sie aus dem Zimmer geht und ich dieses verdammte Armband irgendwo hinwerfen kann, wo sie es später finden würde.

Ich schwitze jetzt wie ein Kamel. Meine Augen sind weit geöffnet. Ich weiß, dass ich wie ein Irrer aussehe, aber ich kann es nicht ändern. Ich versuche, ihr zuzuhören, aber das sind nur noch Worte jetzt, Worte, Worte, Worte. Jedes einzelne sorgt dafür, dass es mir nur schlechter geht.

Schließlich schaffe ich es, das Ding aus meiner Tasche zu manövrieren. Sie redet noch immer, und ich lächle und nicke, und ich will es unter das Sofakissen schieben, aber der Schweiß läuft mir über die Finger, und ich sehe es, wie in einem Traum gefangen, zu Boden fallen und über den Teppich kullern.

Es liegt da, direkt vor ihrem Fuß, aber sie bemerkt es nicht. Als ich wieder zu Sinnen komme, sage ich: „Könnte ich bitte ein Glas Wasser haben?“ Sie lächelt und sagt: „Ja, es scheint dir nicht gutzugehen.“ Ich sage etwas über die Grippe, und sie geht in die Küche.

Ich werfe mich auf das Armband, gehe zum Sofa zurück und hebe das Kissen hoch, denke dann aber: Was, wenn es Monate dauert, bis sie es findet?

Ganz krank würde das arme Mädchen vor Sorge werden. Also nehme ich das Bücherregal in den Blick, dann den Schrank, und meine Finger drehen das Band wieder und wieder, als sie, bevor ich es begreife, zurück ist, mit meinem Wasser.

Ich reibe mir etwas davon ins Gesicht und schlucke den Rest hinunter, ohne Atem zu holen. Sie sieht mich mit großer Sorge an, und ich muss fast weinen. Die ganze Welt hasst mich. Ich hasse mich selbst. Aber dann habe ich eine Idee und sage: „Weißt du, ich muss jetzt gehen. Aber kann ich vorher kurz eure Toilette benutzen?“ Und denke, ich lasse es einfach auf dem Waschbecken liegen. Ganz einfach. Einfach wie Pizza.

Aber der fette Wichser ist noch immer im Bad. Und sie fragt ihn, wie lange er noch braucht, und der gereizte Trottel sagt: „Weiß nicht. Bin gerade erst rein, oder?“ Und ich lächle und sage, „Ach, egal, ich geh in den Pub um die Ecke“, und sie sieht aus, als wollte sie sich entschuldigen, und wir umarmen uns, wir umarmen uns tatsächlich, und ich halte sie fest und fester, aber als ich ihre Anspannung spüre, lasse ich los, wische mir die Augen und gehe.

Die Tür schließt sich hinter mir. Ich schließe die Augen und lehne mich gegen die Wand, bevor ich die Treppe hinuntergehe. Als ich unten ankomme, erblicke ich Plan E.

Die Briefkästen. Warum sind sie mir nicht früher eingefallen? Einer für jede Wohnung. Alle offen. Eigentlich nur Ablagen. Ich erblicke ihren Briefkasten sofort und danke Gott, dass er mir dadurch ewigen Selbstekel erspart. Ich zögere jedoch, das Armband einfach so hineinzuwerfen. Wie der Wichser in im Bad gesagt hätte: „Irgendein Penner wird’s klauen.“ Also schnappe ich mir einen Briefumschlag, reiße ihn mit dem Fingernagel auf, entnehme den Inhalt und stecke das Armband hinein.

In meiner Hand ist ein Zettel. Er ist vom Vermieter.


Angesichts der aktuellen Flut von Briefkastendiebstählen habe ich eine Videoüberwachungsanlage über dem Haupteingang angebracht. Entschuldigen Sie bitte alle Unannehmlichkeiten.


Ich drehe mich um und gucke. Da ist sie, hart und zynisch, weiß und klinisch, und starrt mich mit ihrem glänzenden Auge an. Ich starre zurück, voller Hass auf die Welt, voller Hass auf den Wichser, der sich das Band ansehen und mich für einen Dieb halten wird. Ich balle die Fäuste, schließe die Augen, und als ich sie öffne, ist die Welt rot, wie in Blut getaucht.

In der Ecke neben der Tür hängt ein Feuerlöscher. Ich gehe zu ihm rüber, schwinge ihn über meinen Kopf und wuchte ihn seitlich in die Kamera, viermal, vielleicht fünfmal. Die Kamera fällt runter, reißt aus der Wand. Sie sieht mich mit ihrem kaputten Auge an, grinst. Ich zertrete ihren hässlichen Kopf unter meinem Stiefel.

Nach einer Verbeugung vor einem unsichtbaren Publikum öffne ich die Tür und verlasse das Gebäude.

4.

Meine Schwester Angeli nahm mich mit in Ein Quantum Trost, um mich „aufzuheitern“. Ich sagte ihr, dass 007 mit seinem Intimitätsterror ein verklemmter Psychopath sei: ein doppelzüngiger Lügner, ein Spion … die britische Psyche in nuce. Angeli machte die Wichsergeste.

„Es ist ein Film, Ravi.“

Ich deutete auf die britische Öffentlichkeit (wir waren in der Westfield Mall).

„Für die ist die ganze Welt ein Film, Angie. Nicht einmal das. Ein Trailer, ein Werbespot.“

„Das sind einfach Menschen, Ravi. Sie wollen nur ein bisschen S-P-A-S-S. Solltest du auch mal probieren.“

Das Ironische an der Sache ist, dass sie diejenige mit einem Einserabschluss in Warwick ist. Ich bin die Jungfrau, die die Uni im zweiten Jahr abgebrochen hat. Aber ich glaube trotzdem, dass ich klüger bin. Nein, nicht klüger. Ich denke einfach. Angeli meint, ich würde mich zu stark mit meinem Geist identifizieren. Aber das sagt sie nur, weil sie dieses eine Buch von Eckhart Tolle gelesen hat.

„Ravi, schau.“

Zwei Männer in Camouflage sprachen mit einem Pizzajungen. Sie standen an einem Rekrutierungsstand fürs Militär. Mit ihrem kurzen Rock und dem Lippenstift (wir waren lediglich in einer Mall, aber so ist sie halt) ging Angeli schnurstracks auf sie zu. Sie mag Männer in Uniform, auch wenn das nicht für Pizzamänner gilt.

Der eine Anwerber war kaum (nicht mehr als) dreißig Jahre alt, hatte fuchsrotes Haar, einen Zweitagebart und ein Dauergrinsen. Der andere war um die fünfunddreißig und sah aus wie ein blonder Forrest Gump. Ich wollte ihn umarmen. Weiß nicht, warum.

„Also, was macht ihr hier, Jungs?“, sagte Angeli.

„Sie rekrutieren“, sagte ich zu ihr.

„Wir wollen nur informieren“, sagte Fuchshaar, „falls jemand es in Erwägung ziehen sollte.“

„Bisschen manipulativ, was?“, sagte ich. „Draußen bei James Bond stehen und so tun, als sei es total glamourös.“

„Natürlich nicht. Wir sind dafür da, über die Wahrheit der Armee zu reden. Wir brauchen keine Leute mit Flausen im Kopf.“

„Und was ist die Wahrheit?“, fragte ich. „Warum sollte ich zur Armee?“

„Also, eins kann ich dir sagen, nicht wegen des Geldes!“, sagte der Fuchs und lachte.

„Der Lifestyle ist’s“, sagte Forrest Gump.

„Man sieht die Welt“, sagte Fuchs. „Man trifft neue Leute.“

„Und dann tötet man sie“, sagte ich.

Sie lachten beide.

„Wir waren im Irak“, sagte der Jüngere. „Wir haben so manches gesehen.“

„Habt ihr je einen umgebracht?“

Angeli machte die Wichsergeste (zu unterscheiden von der wichsenden Geste).

„Nein, ist schon okay“, sagte Fuchs. „Alles, was ich dazu sagen werde, ist, dass es Dinge gibt, die ich lieber vergessen würde. Und das ist alles, was ich dazu sagen möchte.“

Und so ging es weiter. Sie waren ehrlich. Forrest Gump sagte, er habe genug; er würde zur Feuerwehr gehen. Ich war ein wenig erhitzt; sagte ihnen, dass Krieg illegal sei. Sie schienen dem zuzustimmen.

„Aber wenn jeder Soldat, der eine andere Meinung als die Regierung hat, sich weigert zu kämpfen, gibt es keine Kriege mehr.“

„Siehste“, sagte ich.

„Aber wir müssen uns alle verteidigen. Lässt du deine Tür in der Nacht offen? Was würde wohl passieren, wenn du’s tätest?“

„Und was ist mit den Angriffen?“

„Auch wenn wir nicht mit allem einverstanden sind, was wir tun müssen, brauchen wir eine Armee. Genauso wie wir die Polizei brauchen. Und es gibt nicht nur den Irak und Kriege. Die Armee macht alles Mögliche.“

Sie schienen Spaß an der Diskussion zu haben.

„Wir sind heute Abend im Pub“, sagte Forrest. „Warum kommt ihr nicht vorbei? Wir sollten das weiter bequatschen.“

Für gewöhnlich verbrachte ich meine Abende Gras rauchend im Internet. Wenn ich ausging, dann mit Leuten, die mir keine Fragen stellten wie „Und was machst du so?“. Aber ich hatte keine Wahl. Ich war schließlich mit Angeli unterwegs, die niemals eine Einladung ausschlug. Sie notierte sich ihre Nummern.


Es war ein Soldatenpub, zwischen Elephant & Castle und Kennington. Keiner hatte Haare, die länger als etwa zwei Zentimeter waren, und alle trugen sie Muscle-Shirts, obwohl es Winter war. Ich war wahrscheinlich der einzige ohne Tattoo (Angelie hatte drei, von denen ich wusste).

Der Fuchs und der Jüngere saßen mit zwei anderen an einem Tisch. Sie freuten sich richtig, als sie uns sahen. Ich mochte sie, auch wenn ich Angeli meine Bedenken auf dem Heimweg mitgeteilt hatte (“Sie verdienen ihr Geld durch Morden“, etc.). Sie tippte währenddessen SMSe und hielt es nicht für nötig zu antworten.

„Ihr habt’s also geschafft“, sagte der Fuchs, er hieß Paul, und haute mir auf den Rücken.

„Was wollt ihr trinken?“, fragte Forrest, sein Name war Andrew.

Ich bestellte einen Pint Bier, das Männlichste, was mir gerade einfiel. Angeli nahm eine Bloody Mary. Sie stellten uns den anderen vor. Ich erfuhr, dass der Grund, warum so viele Soldaten ihren Kopf rasierten, die Drogentests waren: Ein einziges Haar offenbart deine ganze Drogengeschichte.

„Sie können es aber auch aus der Achselhöhle nehmen, oder vom Bein“, sagte Andrew, „also kommt man eigentlich eh nie davon.“

„Es sei denn, man rasiert sich die Beine.“

Ich zog den Kopf ein und wünschte mir, nichts gesagt zu haben, aber zu meiner Überraschung lachten alle herzlich. Angeli blieb nichts anderes übrig als einzustimmen, aber sie flüsterte mir leise „Idiot“ zu. Ich ignorierte sie und machte einen weiteren Witz darüber, dass man wahrscheinlich seine ganze Sexualbiografie an einem Schamhaar ablesen könnte. Diesmal brachen sie buchstäblich vor Lachen zusammen, hämmerten auf den Tisch und kippten Drinks um.

So ging’s die Nacht weiter. Ich kam noch besser drauf, und trotz ihres Ausschnitts und der falschen Wimpern geriet Angeli mehr und mehr in den Hintergrund.

Und dann kam Hugh herein.

Er hatte ein Harris-Tweed-Sakko an und trug Armbanduhr, Aktentasche und eine Schiebermütze. Er hatte einen Seitenscheitel, präzise gezogen wie ein militärischer Gruß. Er war in etwa so alt wie Andrew, höchstens fünfundzwanzig, trotzdem kuschten alle vor ihm, rückten still mit ihren Stühlen zur Seite, als seien sie es nicht wert, am selben Tisch zu sitzen. Hugh fand wohl, dass ihm das zusteht, und machte sich, anders als die anderen, gleich mit unverhohlener Geilheit an Angeli heran.

„Du heißt Angel, sagtest du?“

Sie kicherte.

„Ich nenne dich jedenfalls Angel.“

„Dann nenn ich dich Sergeant.“

Sie redeten über Wimbledon, und ich sah, wie Hughs Finger über ihre Schulter strichen. Ein kleiner Mann im Parka tauchte hinter ihnen auf, griff in Hughs Sakko und zog einen Briefumschlag hervor. Ich protestierte, doch Andrew schüttelte nur den Kopf. Wie aufs Stichwort gähnte Hugh und sagte:

„Gehe jetzt auf eine Party. Kommst du mit?“

Angeli schnurrte als Antwort. Natürlich musste auch ich mitgehen. Ich konnte sie mit diesem Sandhurst-Vergewaltiger nicht alleine lassen.

„Hugh ist der echte James Bond“, sagte Paul, als wir aufstanden, um zu gehen.

„Nicht ganz“, sagte Hugh und zwinkerte.

Wir verabschiedeten uns voneinander, aber es lag ein Verrat in der Luft. Angeli hatte mich die Rangordnung spüren lassen. So muss man es wohl ausdrücken.

Hugh fährt einen MG, eine Oldtimerschönheit, cremefarben mit brauner Lederausstattung. Ich sitze hinten, baue einen Joint und höre T-Rex und Angelis Geistlosigkeiten zu. Ich zünde den Joint an und inhaliere, bevor ich ihn weitergebe. Hugh würdigt meine Virtuosität, indem er einen Daumen hochreckt. Joints bauen ist eine Sache, die ich richtig gut kann.

Ich weiß nicht, wo wir sind. Ich vermute, irgendwo östlich bei der King’s Road. Ich schließe die Augen.

Ich renne durch eine Wüste. Die Sonne scheint warm auf mein Gesicht, ich sehe Wasser und Palmen.

Und nun prasselt Regen gegen Hughs Panzerglasscheiben, und er hat meiner Schwester die Hand geküsst und sie mit einem kecken Lachen „Lady“ genannt.

Wir sind in Chelsea, beim Fluss. Hugh redet darüber, warum er kein Mobiltelefon besitzt. Ich habe Angeli in der letzten Minute zwei SMSe geschrieben.

Was machst du da verdammtnochmal?!

Der Typ ist der Prinz aller Volltrottel.

Sie schaltet das Handy aus und sagt: „Stalker.“

Hugh schlittert in einen „Parkplatz“ am Hafen von Chelsea. Der Wagen kommt diagonal eingeparkt, zur Hälfte auf dem Bürgersteig, zum Stehen. „Jemand wird ihn schon richtig hinstellen“, sagt er, obwohl ich keinen Hoteldiener sehe.

„Und was machst du so?“, fragt Hugh.

„Ich versuche, ein Mann zu sein“, sage ich und denke an Paul und Andrew, meine lieben und fürsorglichen Freunde.

„Und, läuft’s gut?“

„Und bei dir, Hugo?“, sage ich und versprühe Schlangengift.

„Ich bin beim Heer, mein Sohn.“

Wir sind bei einem Boot angekommen. Zu dritt gehen wir über den Steg.


Im Inneren ist es geräumig, geräumiger, als ich es bei einem Boot für möglich gehalten habe. Es gibt vier Schlafzimmer und einen Wintergarten. Der Boden ist dick mit Perserteppichen ausgelegt. Eine Waffensammlung funkelt in einer Vitrine an der gegenüberliegenden Wand. Ich sehe einen Miró, einen Renoir, einen Henry Moore, und vielleicht ist das dort ein van Gogh? Hier sind nur vier, fünf Leute. Der größte Teil der Party ist auf dem Dach oder an Deck. Angeli liegt auf einem bestickten Sofa, ihre Finger streicheln die Blätter eines Aronstabgewächses. Ihre Füße liegen in Hughs Schoß. Ich sitze im Schneidersitz auf dem Boden. Sie wollen, dass ich gehe; ich spüre das.

„Und du warst auch im Irak, oder, Hugo?“

Angeli zündet einen Joint an und bläst Rauch gegen die Stuckdecke.

„Bin vor einigen Jahren aus Basra zurück.“

„Wie war es?“

„Heiß war es“, sagt er. „Und wir haben ein paar Leute windelweich geprügelt.“

Angelis und mein Blick treffen sich. Ich sehe Sympathie darin, aber dann blinzelt sie, und der Nebel kehrt zurück.

Ich stehe auf, den Spliff in der Hand.Tausendundeine Nacht. Der Herzog von Marlborough. Harry Potter und der Feuerkelch. Nick Drake: Eine Biografie. Dann stehe ich draußen in leichtem Regen. Champagnergläser, blonde Ringellocken, Beine und Parfüm. Ich ducke mich unter der Reling hindurch und gehe eine glitzernde Treppe hinab. Ein kleineres Deck, leer außer ein paar Schatten. Ich sitze auf einer weißen Bank. Mein Rücken ist durchnässt.

„Lust, den zu teilen?“

Der Schatten verbirgt einen Jungen. Er streckt seine Hand aus, ein weißer Glühdraht in der Finsternis. Ich gebe ihm den feuchten und schlaffen Joint. Wolken wie von grauen Scharfschützen.

„Dank dir, Bro.“

Rotes Haar unter der Kapuze seiner Windjacke, Timberlands und fein gebügelte Jeans; ein rosa Button-Down-Kragen. Die Standardtracht der Privatschulen.

„Ich bin Ravi.“

„Henry. Du kennst Neville?“

„Nein. Ich kenne Hugh.“

„Hugh?“

„Den Mann vom Heer“, sage ich. „Hat ein paar Leute windelweich geprügelt.“

„Hugh Mainwaring?“

„Weiß nicht.“

„Ich will ja nicht unhöflich sein, Bro, aber der Typ ist endfertig.“

Es hört sich wie „endfeddich“ an.

„Ja, er hat was mit meiner Schwester.“

„Gute Güte.“

Ich habe noch immer Hughs Hasch. Schwarzer Marokkaner. Etwa drei Gramm. Ich baue zwei große Joints und schmeiße den Rest ins Wasser.

Zu meiner Linken sehe ich Angeli die Treppe herunterkommen. Henry wendet seinen Blick ab, als ihr Rock zum Himmel geweht wird.

„Hey, Ravi“, sagt sie und sieht gut und richtig breit aus.

„Das ist Henry“, sage ich zu ihr.

Henry parodiert einen militärischen Gruß, während der Wind seine Kapuze vom Kopf weht. Rotes Haar, das von einer unsichtbaren Hand zerzaust wird.

„O Gott“, sagt Angeli. „O Gott.“

„Nein, nicht Gott.“

„Eure Hoheit.“


Prinz Henry von Wales, im Allgemeinen als Harry bekannt, vierter Enkel von Queen Elizabeth der Zweiten, jüngerer Sohn von Charles und Diana, der drittnächste Thronfolger des Vereinigten Königreiches, von Kanada, Australien, Neuseeland, Jamaika, Barbados, den Bahamas, Grenada, Papua-Neuguinea, den Salomonen, Tuvalu, St. Lucia, St. Vincent und den Grenadinen, Belize, Antigua und Barbuda und St. Kitts und Nevis, überreichte meiner Schwester den Joint.

Und dann kam Hugh die Treppe hinab, panzergleich.

„Mein dunkler Engel … meine Aphrodite.“

Ich saugte wie ein Säugling am Joint, während Angeli dem Prinzen einen sehnsüchtigen Blick zuwarf.

„Königlicher Harry“, sagte Hugh.

Harry schaute weg, in den zerklüfteten Fluss.

„Harry hat ein Double, Liebling“, sagte Hugh. „Einen Doppelgänger. Er hat ihn vor einer Stunde weggeschickt, wie ich ihn kenne. Die Paparazzi werden inzwischen fast in Balmoral sein. Richtig?“

„Hör mal, Hugh“, sagte Harry. „Ich will nicht unhöflich sein, aber Ravi und ich haben etwas ziemlich Dringliches zu diskutieren.“

„Aber klar“, sagte Hugh. „Bin nur gekommen, um das Fohlen hier abzuholen. Zeit, die Ärsche zu schütteln.“

Angeli tanzt irre gerne, aber hätte ihr Harry nicht gesagt, dass sie gehen sollte, hätte ich sie mit einem superstarken Lösemittel von Deck loseisen müssen.

Hugh klatschte Angeli auf den Arsch. Ich stand irgendwie auf Halbmast da, meine Beine ganz schwach vom Gras.

„Hugh hat einen blauen Gürtel im Boxen“, sagte Harry mit einem falschen Lachen.

Ich sah ihn tief und ernsthaft an. Seine müden Windsor-Augen sagten: Ja, das ist wahr.

Hugh führte meine Schwester zur Treppe. Sie blickte über die Schulter zum Prinzen hinunter. Diesmal sah er zurück und erhaschte einen Blick auf ihren Schlüpfer im dumpfen Smoglicht.

„Hast du eine Freundin, Harry?“, fragte ich.

Er lachte. „Liest du keine Zeitung?“

„Ist doch alles Dreck.“

„Wem sagst du das.“

„Ich bin kein Monarchist“, sagte ich. „Finde, das ist alles ein großer Beschiss.“

„Zu Recht“, sagte er. „Mir geht’s nicht anders. Frisches Zeug, das.“

„Ich habe zu dir persönlich keine Meinung“, fuhr ich fort. „Es ist die Institution.“

„Das kann ich respektieren. Ich will, dass meine Freunde mich mögen, weil ich ich bin, Harry, und nicht für das, was ich repräsentiere. Schlimm aber, dass ich nie weiß, wer echt ist.“

„Sag mal“, sagte ich und erinnerte mich an meine Ratio. „Das ist alles sehr tragisch, aber bist du nicht eine Art Rassist?“

„Also liest du die Zeitungen doch.“

„Und, bist du einer?“

„Nun, wenn du so fragst, ja, bin ich, aber nicht mehr als Otto Normalverbraucher. Ich kann dir sagen, dass in meinem Herzen keine Bösartigkeit ist. Ich verabscheue die Britische Nationalpartei. Ich habe asiatische Freunde. Aber schau, wenn du dich mit jemandem in einem Streit befindest, musst du sagen, was immer ihn am meisten verletzt. Und wenn du in einen Krieg ziehst, musst du hart sein. Beim Militär mobben wir uns gegenseitig. Wir treten uns in die Eier.“

„Also würdest du mich einen Paki nennen?“

„Wenn ich dich hart rannehmen wollte, ja, würde ich.“

„Dann würde ich dich einen verwöhnten Idioten von einem Pinkel nennen.“

„Okay, zuerst mal, aua, das hab ich ja noch nie gehört. Und zweitens sind es exakt solche Gespräche, die mir das Alleinsein hier so wünschenswert erscheinen lassen. Ich dachte, du wärst anders, Raviboy. Aber du bist auch nur wie die Nachrichten.“

„Nein, bin ich nicht. Es ist mir völlig egal, Eure königliche Scheißhoheit. Ich betreibe nur Konversation. Rauch den hier.“

Er blies den Edelmarokkaner in den Wind von Chelsea.

„Ich werde nie König sein, weißt du. Alles, was ich tun kann, ist ein Mann zu sein. Und das ist alles, was ich versuche.“

„Ich auch“, sagte ich. „Ich auch.


Die Nacht vergeht wie im Flug. Der Himmel ist hirngrau. Harry und ich haben eine Flasche Brandy getrunken, und unsere Geister haben sich verbunden. Ich habe ihm erzählt, dass ich meinen Vater hasse, und er hat geweint und gesagt, er wolle alles, nur das nicht, was er schon habe. Wir sind jetzt tiefsinnig wie Sufis, er und ich. Wir wissen, dass das hier nicht das Leben ist, aber was es sonst ist, wissen wir auch nicht.

„Lass uns nach oben gehen“, sagt Harry. „Da gibt’s was zu essen.“

„Cool“, sage ich und höre es dann platschen.

Der Dritte in der Thronfolge strampelt sich ab. Ich suche vergeblich nach einem Rettungsring, aber er hat es bis an den Rand geschafft und streckt seine Hand nach mir aus. Schwerer, als er aussieht, dieser biertrinkende Rugbyspieler. Ich ziehe ihn hoch, ein fuchsroter Thunfisch. Er friert, sieht geschockt aus, aber glücklich.

„Passiert immer wieder“, sagt er.

Ich lache. Dieser Prinz ist der langweiligste, lächerlichste Loser, den ich je getroffen habe, und genau darin besteht seine Großartigkeit. Wir sind Urmenschen, er und ich, Narren, die durch Jahrhunderte der Ignoranz tapsen.

In Nevilles Schlafzimmer zieht er sich um. Ich finde eine Tüte mit Pillen in der Schreibtischschublade - weiße Tauben -, und wir schlucken ein paar, zu betrunken, um nachzudenken. Er trägt jetzt von Kopf bis Fuß Denim.

„Wird Zeit, dem Feind ins Auge zu blicken“, sage ich und bespritze ihn mit Cool Water.

Das Wohnzimmer ist leer bis auf vier schnarchende Paare in Schlafsäcken auf dem Boden. Schüsseln mit Oliven, Schafskäse, Salamischeiben und Käsecrackern stehen auf den Tischen und liegen umgeworfen auf dem Teppich.

Und da ist auch, wie Hintergrundmusik, der Klang von Geschlechtsverkehr: eine eher laue Sache, eine Matratze mit rostiger Feder ist zu hören, und ein Soprankeuchen, aber ich kenne die Stimme. Ich kenne sie seit meiner Kindheit.

„Sorry, Kumpel“, sagt der Prinz. „Hugh ist ein Arsch, ich weiß.“

„Und in meiner Schwester ist er auch.“

„Das hier wird dich aufheitern.“ Er deutet auf die Waffenvitrine. „Schon mal eine von denen abgefeuert?“

Ich schüttle den Kopf, und er überreicht mir einen Smith and Wesson Sechsschuss-Revolver von 1869, schwarz und aus Messing. Es ist das erste Mal, dass ich eine Waffe in der Hand habe. Sie fühlt sich scharf und hart an, ein lebendiger Schwanz, der zwischen meinen Fingern kitzelt.

„Nicht schlecht, was?“

Ich nicke.

„Komm mit.“

Wir gehen wieder hinaus in den Chelsea-Niesel. Auf dem Dach feuert Harry einen Schuss in Gottes fahles Gesicht. Er gibt mir die Waffe, und ich mache dasselbe. Es ist wie ein Ersatz fürs Ejakulieren. Ich brülle den Himmel an.

„Yeah, Baby“, sagt Harry. „Gefällt es dir?“

„Gefällt mir“, sage ich und schieße einen Engel in der gräulichen Dämmerung ab. „Gefällt mir.“


„Wie konntest du nur, Ravi?“

Es war der folgende Morgen. Meine Mutter stand in meinem Zimmer. Und dann auch mein Vater, oder fast, indem er seinen Kopf und Oberkörper wie eine auseinandermontierte Schaufensterpuppe durch den Türrahmen steckte.

„Wo ist sie, Ravi? Wo hast du sie zurückgelassen?“

„Es ist alles okay, Papa. Bleib cool.“

„Bleib, cool, bleib cool. Was, wenn sie gerade cool bleibt? Was, wenn sie irgendwo in einer Rinne liegt und erfriert, in ihrem bescheuerten Minirock.“

„Das ganze Zimmer riecht nach Alkohol. Gott!“

„Räum auf räum auf räum auf. Die ganzen Taschentücher, ab in den Mülleimer. Heb deine Sachen auf.“

„Der Herr hat wohl keine Zeit für Jobsuche. Aber zum Ausgehen und Geld-für-Drinks-Ausgeben, dafür hast du Zeit.“

„Deine Schwester könnte irgendwo tot rumliegen, oder Schlimmeres.“

„Schlimmeres? Was könnte schlimmer als tot sein?“

„HALT DEN MUND, RAVI.“

„Geh einfach los und such sie!“

„Steh auf steh auf steh auf.“

Ich zog mir die Decke über den Kopf. Hinter mir standen Lehmwände und Dünen. Jemand schoss eine Leuchtrakete in einen Himmel, der die Farbe afghanischen Haschs hatte.

„Ravi?“

Angeli war zurück.

„Was hast du Mama und Papa erzählt?“

„Nichts.“

„Sicher?“

„Ja.“

Sie legte sich neben mich.

„Bist du sauer?“

Ich grunzte.

„Okay. Bis später dann, ja?“

„Wo gehst du hin?“

„Bis später.“

Ich konnte hören, wie sie sich im Nebenzimmer umzog und bei Missy Elliot mitsang. Ich hoffte, dass sie sich nicht wieder mit Hugh treffen würde, aber natürlich tat sie genau das. So würde es ein paar Wochen lang weitergehen, und dann würde er einen Dreier mit ihrer Cousine vorschlagen oder versuchen, ihr eine Kamasutra-Pornoseite zu zeigen, und sie würde weinend nach Hause kommen, und meine Eltern gäben mir die Schuld.

Ich konnte mir ein kleines Grinsen nicht verkneifen.

Prinz Henry von Wales hatte mich vorige Nacht in einem Bentley nach Hause gefahren. Der Köder hatte nicht funktioniert: Die Paparazzi waren noch immer da, also durchquerten wir den Hafen in einem Beiboot, auf der anderen Seite wartete ein Lakai auf uns. Ich trank heißen Kakao mit Marshmallows im Wagen. Wir umarmten uns zum Abschied nicht, aber schüttelten uns länger die Hand. Er schrieb mir sogar eine SMS aus dem Palast. Kewl Ravi boy. Eine krasse Nacht. Hx. Über dem Text stand keine Nummer. Der Halbblutprinz passte auf.

Ich verbrachte den Tag damit, Interviews mit der königlichen Familie auf YouTube zu gucken. Das mit Ant und Dec war das Beste.

WILLIAM: Ich möchte nicht von jemandem gemocht werden, nur weil ich der bin, der ich bin. Was ich in meinem Privatleben tue, ist wirklich nur eine Sache zwischen mir und … mir selbst, im Grunde.

Ich glaube, Harry war der Schlauere von beiden. Wenn ich seinen Bruder ermordete, würde er König … und zu was würde mich das machen?

Aber ich würde ihn wohl nie wiedersehen. Ich wäre nur ein liebeskranker Republikaner, der sich nach seiner Nacht der königlichen Freuden zurücksehnte.

Als ich zu Bett ging, war es nicht einmal acht Uhr. Es schien einfach nichts zu geben, für das es sich lohnte, wach zu bleiben.


Der Morgen kam mit einem Knall und einem Wimmern. Das Wimmern war von Angeli.

„Du kleine Hure!“

Ich hatte meinen Vater dieses Wort noch nie benutzen hören.

„Ich glaube das nicht. Ich glaube es einfach nicht. Kannst du das glauben, Mira?“

„Ich glaube es nicht.“

Ich glaube es nicht.“

„Papa“, sagte Angeli.

„Halt den Mund. HALT EINFACH DEN MUND!“

So wurde das goldene Mädchen wieder zu Plastik …

„Das ist deine Schuld, Ravi. Wie konntest du das zulassen? Wie konntest du nur?“

„Papa …“

„Es ist in vier Zeitungen. In vier!“

„Papa …“

„Lies sie!“

Machte ich.

SEX-ABENTEUER VON STUDENTIN MIT DEM PRINZEN VON WALES.

EXKLUSIV: MEINE HEISSE NACHT MIT PRINZ CHARMING.

HARRY HAT EINEN RIESENLÜMMEL! FARBIGE SCHÖNHEIT ENTHÜLLT ALLES.

WER WAR DENN DA GESTERN NICHT IN CHELSY? HARRY UND DIE HAUSBOOTPRINZESSIN.

„Da ist doch nicht mal was Richtiges gelaufen“, sagte ich und schaltete den Fernseher ein.

„HALTS MAUL, RAVI! Dich hat keiner gefragt.“

Mein Telefon klingelte.

„Und ändere endlich diesen beschissenen Klingelton.“

“Raviboy …“

“Harry“, sagte ich. “Wie geht’s dir?“

Meine Eltern gefroren zu Eisstatuen. Die Hand meines Vaters war erhoben, als sei er ein Eiskunstläufer. Meine Mutter erstarrte mit mürrischem Gesichtsausdruck.

“Hör mal, Alter“, sagte ich. “Ich weiß nicht, was passiert ist …“

“Ich aber. Deine kleine Schwester hat sich entschieden, etwas Geld zu machen.“

Ich sah Angeli an, deren Augen sich mit Tränen füllten.

“Es tut ihr leid, Kumpel, wirklich leid.“

“Ach, Gottchen, sag ihr, sie soll sich nicht stressen. Die Presse schreibt jede Menge Scheiße. Wenn ich ehrlich bin, Raviboy, kommt mir das gar nicht ungelegen. Nach dem ganzen Palaver über Rassismus lässt mich das hier eher gut …, nun, du weißt schon.“

“So hatte ich das noch nicht gesehen.“

“Was macht ihr beiden heute Abend?“

“Nichts, so weit ich weiß.“

“Also, wir wär’s, ich lasse einen Wagen für euch kommen. So um neun?“

„Toll. Was sollen wir anziehen?“

“Was ihr wollt. Aber keine Hakenkreuze, hörst du?“

“Verstanden.“

“Raviboy, was kann ich sagen - du bist eine Legende.“

“Bis dann, Harry.“

Ich ging zurück zum Fernseher, ignorierte sie alle. Sie brauchten etwa eine Minute, bis sie es aus mir herausgekitzelt hatten. Danach strahlte meine Mutter wie ein Raumschiff.

„Wir sollten dich besser zum Friseur schicken, Angie.“

„Findest du das nicht ein wenig verlogen, Mama? Vor zehn Minuten hast du sie noch eine Hure genannt.“

„Das war dein Vater.“

„Wo gehen wir hin“, fragte Angeli.

„Weiß ich nicht. Er sagte nur ‘aus’.“

Sie sah verängstigt aus. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich will.“

„Du gehst“, sagte mein Vater, rollte die Sun zusammen und strahlte.


Angeli kaufte sich am Nachmittag ein neues Kleid. Sie ging auch zum Friseursalon, ließ sich das Kopfhaar neu stylen, die restliche Körperbehaarung auszupfen. Das seien die schmerzhaftesten drei Stunden ihres Lebens gewesen, sagte sie. Mein Vater kaufte ihr eine Flasche Chanel No. 19 und Schuhe. Ich wollte ihm ein Dutzend Goldringe und einen lila Zuhälteranzug kaufen.

Meine Mutter schminkte sich allein für die Begegnung mit der Limousine. Harry war natürlich nicht drin, also machte sie einen Knicks vor dem Chauffeur, der das wahrscheinlich gewohnt war.

Angeli redete nicht, während wir durch Mayfair schnurrten; erst als wir die Dover Street erreichten, sagte sie:

„Ich weiß nicht, warum ich es getan habe, Rav. Ich war nur betrunken und … ich wünschte mir, es wäre wirklich passiert, das ist alles.“

Sie sah aus, als müsste sie weinen. Der Stylist hatte eine Stunde auf ihr Makeup verwandt. Ich nahm ihre Hand und sagte: „Verstehe ich.“


Der Club hieß Mahiki. Als wir aus der Limousine stiegen, prasselten Blitzlichter auf uns nieder. Angeli, Angeli, wink uns mal zu, Süße. Meine Schwester hielt den Kopf gesenkt, nur ich drehte mich um und lächelte, doch als ich das Wort Paki hörte, zeigte ich ihnen beide Mittelfinger, und sie jubelten mir zu.

Mahiki war im Hawaii-Stil eingerichtet, alles in Bambus oder aus geschnitztem Holz. Die Kellnerinnen trugen Hula-Röcke. Tiki-Masken grinsten anzüglich. Überall Beine, Brüste, Parfüm, Champagner. Der Oberkellner nahm mich beim Arm und führte uns an einen Tisch im hinteren Bereich.

„Raviboy …“

Er trug rosa Nagellack an der rechten Hand. Seine tiefsitzende Jeans enthüllte dazu passende Batman-Shorts.

„Und meine rätselumrankte Liebhaberin. Wie geht es euch?“

„Es tut mir so leid, Eure königliche Hoheit …“ Mein Vater hatte die korrekte Weise, einen Prinzen anzusprechen’, im Internet nachgesehen. „Ich weiß nicht, was über mich kam.“

„Ach Gott, vergiss es. Die Zeitungen sind Gift, und ein wenig davon hast du halt abgekriegt.“

„Es tut mir so unglaublich leid.“

„Schau“, sagte Harry. „Ich bin sehr privilegiert, und ich weiß es, und ich bin dafür dankbar, und ich nehme jede Scheiße hin, die ich dafür erleben muss. Aber lasst uns heute Abend einfach lachen, okay?“

„Okay“, sagte ich.

„Okay“, sagte Angeli und errötete.

“Okay“, sagte Harry.

Vier Stunden später, und die schönste Nacht meines Lebens geht in die Halbzeit. Angeli und ich haben bereits Cheryl Cole, Kate Moss und den größten Teil der Besetzung von Glee kennengelernt. Wir haben etwas getrunken, dass „Vulkan“ hieß, und Angeli hat mit den Saturdays getanzt, während der Prinz und ich Victoria Beckham den Hof gemacht haben.

„Das mit David tut mir sehr leid“, sagte ich zu ihr, vielleicht unüberlegt, und wir verzogen uns wieder, unter kleinen Verbeugungen rückwärts gehend.

„Wenigstens geht sie dieser Tage mal aus“, sagte Harry. „Monatelang ist sie nachts einfach zuhause geblieben, völlig verängstigt.“

„Arme Frau“, sagte ich.

Aber dies war keine Nacht zum Trauern.

Der Prinz und ich tanzten einen Limbo mit einem grauhaarigen Matt LeBlanc, während Angeli einen Blue Peter-Moderator abknutschte, bevor sie sich zu uns an den Tisch setzte. Auf der Toilette hatte ich eine Linie Kokain auf dem Spülkasten gefunden und sie mit dem Gehäuse eines Kulis gesnifft. Harry wischte mir die verräterischen Krümel vom Kinn, und wir lachten wie zwei verlorene Cowboys am Ende der Welt.

„Hey“, sagte Harry und schlug mit der Faust auf den Tisch. „Sollen wir abhauen?“

„Warum? Ich fühle mich pudelwohl.“

„Aber es ist immer dasselbe“, sagte Harry. „Komm mit, und ich zeig dir was Episches.“

„Klar“, sagte ich, voller Vertrauen zu ihm. „Ich sage Angeli Bescheid.“

„Nein“, sagte der Prinz. „Keine Mädels … ist schon okay, wir kommen später zurück, um sie abzuholen.“

Ich schaute mich um und suchte nach meiner Schwester, Russell Brand gab ihr gerade seine Telefonnummer.

„Okay“, sagte ich.

„Abgemacht. Dann auf, Raviboy, lass uns los!“


Wir verließen den Club durch den Hintereingang, gingen an Kisten voller Alkohol vorbei. Die ganze Belegschaft grüßte Harry formell, aber herzlich, und er verteilte sein königliches Lächeln wie Pennys aus der Faust.

Wir wurden in einen Audi mit getönten Fensterscheiben gepackt. Erst da begriff ich, dass das Gewicht in meiner Jacke Nevilles Waffe vom Boot war. Ich war nah dran, es Harry zu sagen, aber dann dachte ich, es wäre ihm eh egal. Nur wir, die Mittelklässler, machen uns Gedanken über solche Dinge.

Wir kamen bei einem eher konservativ aussehenden Gebäude an, mit einer Statue davor, die einen Mann auf einem Pferd zeigte, der mit seiner Pistole in den Himmel feuerte. Es schien ein Gentlemen’s Club zu sein, einer von der eher militärischen Sorte.

„Besser, du erfährst ihn nicht“, sagte Harry, nachdem ich nach dem Namen gefragt hatte.

Wir gingen erneut durch die Küche hinein und fuhren dann in einem Lastenaufzug zur Etage C hinunter, die noch unter dem Keller lag. Zwei Butler mit Melonenhüten verneigten sich und händigten uns Gehröcke und handbemalte Masken aus. Der Prinz half mir, meine festzubinden, während die Doppeltüren geöffnet wurden, um den Blick auf einen Saal von der Größe eines Tennisplatzes freizugeben.

In der Mitte des Saales stand ein Mann in einem Boxring, im Scheinwerferlicht, mit nacktem Oberkörper und in kurzen Hosen. Um den Ring herum verteilten sich vierzig andere Männer, sie waren gekleidet wie wir, rauchten Zigarren und hatten Drinks in der Hand. Zigarettenmädchen mit verbundenen Augen tasteten sich durch die Menge.

Obwohl kurzgliedrig, waren die Arme und Beine des Boxers wie Baumstämme. Sein Gesicht war quadratisch, die Augen Schlitze, das Haar länger als der durchschnittliche Militärschnitt. Ich war von seinen Augen gebannt, sie waren so fokussiert und ruhig.

„Er ist ein Gurkha“, sagte Harry. „Weißt du, was Gurkhas sind?“

Ich nickte.

„Die besten Soldaten der Welt. Der Stolz der Armee. Aber dieser hier ist der Beste der Besten. Er ist der echte James Bond.“

„Wie heißt er.“

„Hab ich doch gesagt. James Bond. Ernsthaft. Guck. Hey, dhai, dhai! Wie heißt du?“

„James Bond“, sagte der Gurkha.

„Siehst du?“

„Warum tragen alle Masken?“

„Tradition, Raviboy. Wir schätzen unsere Anonymität hier. Sieh dich um.“

Das tat ich. Reihen aus maskierten Gesichtern, die einen anstarrten, ohne zu blinzeln.

„Keinen Schimmer, was? Du würdest mir nicht glauben, wenn ich dir ihre Namen verriete. Lässt die Mahiki-Leute wie B-Promis erscheinen.“

Ringsherum wurden die Lichter heruntergedimmt, außer überm Ring, der jetzt heller strahlte.

„Showtime“, sagte Harry.

Es gab keine Ankündigung, keinen Trommelwirbel, nur ein Bellen hinter uns. Die Menge machte Platz für die Butler, die drei Schäferhunde mit Maulkörben hereinführten, groß, sehnig und knurrend.

„Ist okay“, sagte Harry. „Die sind nicht an uns interessiert.“

Am Ring klappten die Butler eine Rampe aus und zogen die Hunde in den Ring. Ein Schiedsrichter kletterte hinein, in schwarzen Shorts und einem Jockeyhemd.

„Gentlemen“, sagte er und ließ eine Klingel ertönen. „Eine Runde ohne Zeitbegrenzung. Bond versus die Hunde. Floreat Britannia.

Der Gurkha streckte die Brust heraus und spannte die Beine an. Die Hunde wurden von der Leine gelassen und näherten sich ihm, Schritt für mörderischen Schritt.

„Ach, du Scheiße!“

„Pscht, Raviboy“, flüsterte der Prinz.

Die Hunde schlichen um ihn herum, die Zähne gebleckt. Der Gurkha breitete die Hände aus und kauerte sich in eine hockende Stellung, selbstsicher und konzentriert, die Augen zuckten hin und her. Als der erste Hund einen Satz machte, war er schon da, traf das Biest mitten in der Luft, verdrehte ihm den Hals und ließ ihn auf den Boden fallen, wo er mit glasigen Augen liegenblieb. Die anderen beiden erstarrten, als er wieder in seine Hockposition zurückging. Sie wichen zurück, und dieses Mal warf er sein Gewicht nach vorne, landete mit seinen Händen auf ihren Rücken und drückte sie so hart nieder, dass ihre Beine sich unter ihnen spreizten. Die Hunde versuchten, die Köpfe herumzudrehen, um zuzubeißen, wimmernd, knurrend, doch stattdessen sanken ihre Bäuche nur weiter ab, bis er ihre Köpfe mit einem Krachen zusammenschlug.

Jetzt waren alle drei Hunde tot.

Der Gurkha machte einen militärischen Gruß. Die Menge applaudierte. Der Butler brachte einen Stuhl und ein großes Glas Rum, dass der Gurkha exte.

„Wie ist dein Name?“, schrie Harry noch einmal.

„James Bond“, sagte der Gurkha keuchend.

„Siehst du?“, sagte der Prinz.

Die Butler trugen die Hunde aus dem Ring. Blutflecken waren auf dem Boden.

„Die Show ist noch nicht vorbei, Raviboy. Schau mal hinter dich.“

Die Butler schoben einen Käfig auf Rädern heran. Darin war ein Grizzlybär, über zwei Meter groß.

„Eine wahre Schönheit, was?“

„Scheiße.“

Der Gurkha hatte, vor Schweiß glänzend, den Ring durchquert und schaute zu. Mit Seilzügen hievten die Butler den Käfig über das Gatter. Der Schiedsrichter kehrte zurück.

„Und zweites Match. Eine Runde ohne Zeitbegrenzung. Bond versus der Bär. Floreat Britannia.

Der Schiedsrichter entriegelte den Käfig und sprang in Sicherheit. Der Gurkha lauerte in der üblichen Hockstellung im Zentrum des Rings.

„Ab geht’s“, sagte der Prinz.

Der Bär war schon aus dem Käfig. Auf allen Vieren schien er einen Ausgang zu suchen. Der Gurkha stellte sich ihm in den Weg und ließ einen Kriegsschrei los, die Hände trichterförmig vor dem Mund. Der Bär stellte sich auf seine Hinterbeine. Einen halben Meter größer als der Gurkha, vollführte er kleine Ballettschritte vorwärts, die Arme ausgebreitet. Der Gurkha tat dasselbe, und die beiden krachten zusammen, die kräftigen Arme umeinander.

Mensch und Bär tanzten, rangen, balancierten, zerrten aneinander. Ich sah das Gesicht des Gurkhas, weiße Knochen, rote Haut, seine Rippen begannen zu brechen. Nach Luft ringend, kämpfte er sich aus der Umklammerung und schlug dem Bären in die Schläfen. Blut und Speichel flogen umher, hell gegen das Licht. Der Bär stürzte nach vorne und griff sich den Hals des Gurkhas. Der fiel auf die Knie, seine Augen traten hervor.

BUMM!

Auf den Bär war geschossen worden. Ich konnte die Wunde sehen, das fließende Blut. Er fiel auf die Seite, noch nicht ganz tot.

Der Rückprall wuchtete mich nach hinten. Ich hielt die Waffe nach oben, während der Saal mich anstarrte.

„Alter“, sagte der Prinz. „Was in Dreiteufelsnamen tust du da?“

„Sei leise“, sagte ich. „Sei einfach leise, Harry.“

Der Gurkha saß nun aufrecht und rieb sich den Hals.

„Lasst ihn gehen“, sagte ich in den Raum. „Lasst ihn einfach gehen.“

„Ravi, ehrlich, bist du verrückt?“

„James Bond“, sagte ich. „Lasst ihn gehen, oder der Prinz hier ist dran!“

Ich drückte die Waffe gegen Harrys Kopf.

„Du bist psychotisch, Raviboy. Selbst ich kann sie jetzt nicht mehr aufhalten. Sie werden dich killen.“

„HALT DEN MUND, HARRY. HALT EINFACH DEN MUND.“

Mit der Waffe an seinem Kopf führte ich den Prinzen durch die Menge und zum Ausgang. Ausdruckslos folgte der Gurkha uns.

Wir gingen durch die Doppeltür. Weiter zum Lastenaufzug. Als die Tür sich zu schließen begann, schubste ich Henry hinaus.

„Deine Entscheidung, Raviboy“, sagte er. „Würde morgen früh nicht gern in deiner Haut stecken …“

Der Gurkha atmete schwer. Sein Hals und sein Oberkörper waren verwundet. Oben angekommen, scheuchte ich ihn hinaus, denselben Weg, den wir gekommen waren. Die Kellner starrten nur. Ich fuchtelte mit der Pistole herum.

Draußen regnete es stark. Wir rannten auf die Straße. Ich winkte nach einem Taxi.

Das Nächste, was ich weiß, ist, dass mein Gesicht auf dem Bürgersteig war und mir von hinten Handschellen angelegt wurden. Als ich den Kopf hob, sah ich, wie der Gurkha mich auf seinen Knien anstarrte. Er sah nicht überrascht aus.

Hier bin ich nun, starre in den hellen, afghanischen Himmel. Eine drei Meter hohe Lehmwand steht zwischen mir und tausend RPGs. Auch ich habe Menschen sterben sehen.

Paul habe ich vor ein paar Wochen getroffen, den mit dem fuchsroten Haar. Er ist in einem anderen Regiment, aber er hat mir eine Zigarette gegeben, und wir haben uns erzählt, was passiert ist.

„Hätte nie gedacht, dass ich dich hier draußen treffe“, sagte er.

„Du hast es gut verkauft“, sagte ich zu ihm.

Paul grinste. „Wusste nicht, dass ich so überzeugend bin.“

Es hieß, entweder das hier oder Gefängnis. Ich glaube, dass der Prinz selbst diesen Deal für mich ausgehandelt hat, also sollte ich dankbar sein.

Wenn es dämmert, werde ich in ein Loch scheißen, mich waschen, rasieren und Sandsäcke für unsere „hearts and minds“-Patrouille füllen. Jeden Tag höre ich Gerüchte, dass sie uns hier rausholen, aber jeden Tag bin ich noch immer hier.

Gestern habe ich eine Postkarte von Angeli bekommen. Sie ist jetzt Anwältin in einer Londoner Firma. Sie versichert mich dauernd ihrer Liebe und sagt mir, dass sie an mich denkt. Meine Eltern sind stolz, anscheinend.

Ich zünde eine Zigarette an und starre die Handvoll Sterne da oben an. Wenigstens das kann man in London nicht sehen. Ich starre, bis es sich anfühlt, als wäre ich auch da oben, als würde ich ebenfalls in diesem schweren Himmel schweben.

5.

Unser Held hat fünfzehn Tattoos.

Auf seinem Rücken: die Namen seiner Söhne, ein geflügeltes Kreuz und die Worte Guardian Angel.

Auf seinem linken Arm: ein Bild seiner Frau, ihr Name auf Hindi, die Worte Forever by Your Side und Ut Amem et Foveam (Auf Dass Ich Liebe und Ehre).

Auf seinem rechten Arm: die römische Ziffer VII, zwei Engel, ein klassisches Motiv, das Motto In the Face of Adversity (Im Angesicht des Unglücks) und Perfectio in Spiritu (Spirituelle Perfektion).

Von seiner Brustwarze zur Leiste verläuft ein chinesisches Sprichwort, das übersetzt heißt: „Tod und Leben haben vorbestimmt, wann sie einander begegnen. Reichtum und Ehre hängen vom Himmel ab.“

Sein Körper war sein Werk, ein Kunstwerk, doch ist dessen Pracht schon lange vergangen, dank Malini und mir.

Doch nein, meine Frau trägt keine Schuld.

Ich bin ein stolzer, stolzer Mann. Mir läuft eine Narbe vom Auge zum Kinn. Diese Wunde habe ich mir selbst zugefügt, nachdem ich mein letztes Porträt gemalt hatte: Krish und Gopi B von Bloomsbury, die ein 150x100cm-Ölgemälde von ihrem Porsche Cayenne in Auftrag gegeben hatten - “weißt du noch, wie es sich anfühlt, loszulassen?“ - um es an ihrer Schlafzimmerwand aufzuhängen.

So zahlte ich nun einmal meine Rechnungen.

Mein Name ist K., und ich bin ein politischer Miniaturmaler. Meine Arbeiten sind riesig, raumgreifend, ausladend, fernsichtig - o ja! -, aber mit so winzigen Details ausgestattet, dass die ganze Menschheit auf eine schrumpfende, kleine Leinwand passt. Je genauer man hinsieht, desto subtiler wird die Geschichte, die man hört:

Hiroshima, 6. August 1945: Zwanzig Sekunden vor der Detonation.

Banken, Restaurants, Büros, Cafés, Bordelle, Eisenbahnen, Zahnärzte, Krankenhäuser, Schulen; Kinder, Eltern, Invalide, Rechtsanwälte, Diebe und Priester. Über all dem: drei Flugzeuge im Querschnitt. Die Enola Gay, die Necessary Evil und die Great Artiste. Oberst Paul Tibbets, lächelnd, weinend, aufrecht. Es war mir zur Gewohnheit geworden, Oberflächen abzutragen, wie es mir gefiel. Röntgenstrahl nach Röntgenstrahl. Haut wegschneiden. Wände entfernen. Das Leben in seiner ganzen Ganzheit. Man kann sogar seinen Samen sehen.


New York: 11. September.

Hiroshima ähnlich, aber wir können nicht ins Flugzeug sehen.


London: 7.7.

Sex, überall nur Sex. Londons Huren in Kellern und Burgen. Königliche Münder, gepierct und blutig. Parlament und Palast nacktgelegt. In einem Hotel in der Liverpool Street ist Netanjahu am Telefon. Genauso Blair in der Downing Street. Am Russell Square spuckt ein Bus Arme und Beine aus.


Sie mochten dieses Bild nicht, und ich wurde abgestraft. „Ein Propagandist“. „Ein Aufwiegler“. „Grausamkeit des Stils“. „Eine schwere Hand“. Und dann - nichts. Sie ließen mich einfach allein.

Wir lebten danach von einem Gehalt. Ich zog mich zurück. In meiner Wut schnitt ich winzige Zeichnungen über meinen ganzen Körper, der Schmerz dröhnte aus Protest in mein Hirn. In meine linke Fußsohle schnitt ich eine Peitsche, in die rechte eine Flamme. Ich war gerade dabei, meinen Zeh zu entfernen, als Malini intervenierte:

„Ich war beim Arzt …“

Und bald hatten wir gar kein Einkommen mehr. Wie irgendwelche Leute …


Manchester ist keine Stadt, die ich freiwillig besuchen würde. Die Luft liegt feucht wie Wolle auf der Haut, und sie riecht nach Bier. Whalley Range, ein Name wie ein Privatschulenwitz, stinkt nach menschlichem Abschaum. Ich habe die Geschichte gelesen: von Quäkern kontrolliert, keine Pubs erlaubt, die Sünder wurden in ihren Heimen missbraucht, und siehe! Schwache, proletarische Gene, die sich mit ihrer eigenen berauschten Pisse vollsaugen. Ja, ich bin ein bitterer Mann.

College Road. Zweiter Gang.


Das ist keine Moral, sondern ein Fakt: Plumper, uneleganter Stolz verliert neben dem einen Serienkiller alle Bedeutung, dem Serienkiller mit dem schwärzesten Herzen, unter dem Namen „Krebs“ bekannt.

Um es weniger hart zu formulieren: Ich brauchte das Geld. Wir brauchten das Geld.

Aber Stolz ist eine seltsame Sache.


Bremsschwellen, die so groß sind wie Kamele. Ich rumple weiter, und zu meiner Rechten taucht es auf wie eine Metapher. Ein solches Gebäude gehört nicht hierhin.

Hinter den Eisentoren, höher als zwei Männer, durchspießt eine Turmspitze den schwärenden Himmel. Dieses Gebäude gehört nach Oxford, nicht hierhin.

Ich habe darüber gelesen. Hier wurden Priester ausgebildet, die dann in Afrika und Asien an der Ruhr gestorben sind. Die Universität kaufte es der Kirche ab, die GMB-Gewerkschaft kaufte es der Universität ab, und deren Aktivisten nutzten es, um zu lernen, ihre Lehnsherren richtig anzuschreien.

Doch dann wurde es wieder verkauft.

Man sagt, er gehe nie aus, aber er trinke, rauche, kokse und verbringe ganze Tage im Internet, um mit dem blauäugigen Jungen zu liebäugeln, der er einmal war. Und den er einmal liebte. Wie wir alle.

Als er das erste Mal in unser Leben eintrat, waren meine Worte zu Malini affektiert und falsch.

„Er ist eine Mogelpackung.“

Was meinte ich nur damit?

Bloße Heuchelei. Ich war in ihn verliebt, klar. Aber erst, nachdem ich ihn zerstört hatte, sprach mein Herz offen und klar zu meinem Hirn.

Wir waren damals alle in ihn verliebt, und das hatte nichts mit der Boulevardpresse oder der Dummheit der Massen zu tun; es war für die Seele einfach essenziell. Er verkörperte den Grund, warum wir einstmals Götter hatten; und warum wir noch immer um sie trauern, hin und wieder …

In jener ersten Nacht habe ich ihm wohl meinen Tribut gezollt, heiß gegen meine Bettdecke, meine krebskranke Frau im Schlaf, im Schmerz. Ich sah sein Gesicht und keuchte andächtig …

Aber am Morgen war ich wieder ein Künstler, der Zynismus und Wut vortäuschte.

Zu meiner Überraschung hatte ich einen neuen Auftrag. Die Instruktionen sahen so aus: Zu Ehren der kommenden Olympischen Spiele sollten zwölf Künstler Porträts ein und derselben Person anfertigen. Wer immer dann diejenigen wären, die „den Geist des Mannes am besten einfingen, welcher den Geist der Olympischen Spiele so trefflich eingefangen hat“, sie bekämen 120.000 Pfund, und ihre Gemälde würden unter 24-Stunden-Beleuchtung am Trafalgar Square ausgestellt.

Sie konnten sich nur zwölf Stunden an Sitzungen leisten, in drei Einheiten eingeteilt, jede davon vier Stunden, wobei alle zwölf Künstler gleichzeitig arbeiten würden. Fotografieren war nicht erlaubt. Die Arbeit durfte jedoch im Privaten fortgesetzt werden, bis zur finalen Deadline.

Wir kamen in einem verfallenen Warenlager in Leytonstone zusammen, alle für diesen Anlass herausgeputzt. Zwölf Staffeleien waren um eine lichtdurchflutete Stelle aufgebaut. Es gab eine Menge Champagner, den jedoch niemand anrührte. Die meisten von uns hielten sich selbst für zu gut, um bei diesem Unsinn dabei zu sein, und zögerten auch nicht, es auszusprechen. Andere versuchten, sich mit Worten wie Postmoderne und Ironie zu rechtfertigen, aber das war alles vergessen, sobald er eingetroffen war. Er kam genau zwölf Minuten zu spät.

Der Raum wurde sofort still.


Die Dunkelheit senkt sich nervös hernieder, als ob sie jeden Moment wieder zurückweichen könnte. Ich bezweifle, dass die Anwohner sich um seine Anwesenheit scheren. Die Häuser auf beiden Seiten scheinen allzu gewöhnlich, eine Mischung etablierter und aufstiegswilliger Mittelklasse. Ich glaube, es gab da eine Übereinkunft, ihn aus den Medien auszuschließen, das modere Äquivalent einer öffentlichen Steinigung.

Aber hier wohnt er. Ich kann kaum glauben, was ich sehe. Ein Messingschild mit einem einzigen Wort darauf, archaisch wie eine heidnische Schnitzerei.

BECKHAM.

Und jetzt geht das Tor auf, sehr langsam. Erster Gang.

Ich greife mir ans schwache Herz, aber es ist nur ein falscher Alarm. Ich zumindest bin noch gesund.

Die Kieseinfahrt hinunter, auf Ausschau nach Lebenszeichen. Keine Lichter in diesem Haus: eine Kreuzung zwischen Kathedrale und Burg, die wie ein Grab anmutet. Darin einen Witz zu reißen, wäre unmöglich; die Dunkelheit würde ihn sofort neutralisieren.

Doch dort … dort atmet eine Lampe Farben in die Luft. Ich sehe Rosen, blaugraue im dicken Staub, und links einen Springbrunnen. Neben der Lampe ist eine Holztür mit eiserner Klinke. Ich parke und schließe den Wagen ab. An der Tür hängt eine Mitteilung, die ich öffne.

K. - fühl dich wie zuhause. Bin gleich da. David.


Als ich David Robert Joseph Beckham, geboren 1975 in Leytonstone, zum ersten Mal traf, war er bescheiden, charmant, anspruchslos und - ja, das darf ich wohl sagen! - unglaublich schön. Sein Haar hatte dezente Strähnchen, weniger auffällig als in seiner Jugend, und seine Augen waren kleine Glückspillen, die darum bettelten, geschluckt zu werden. Er war einfach gekleidet, ein schwarzer V-Kragen-Pullover, Jeans von Versace und Slipper. Keines seiner Tattoos war zu sehen. Er schien schüchtern, nervös, aufgeregt.

Die Zimmerbeleuchtung damals war ausschließlich natürlich - die Decke bestand fast nur aus Glas -, aber hierdrin kann ich nicht einmal einen Lichtschalter finden. Eine Öllampe steht auf dem Küchentisch und wirft einen goldfarbenen Lichtkegel ins Zimmer, der ausreicht, um zwei Becher, zwei Holzstühle und eine Flasche Wein zu beleuchten. Ich sitze. Und warte.

In meinem Porträt ging es nur um die Augen. Sie waren ein wenig zu groß, und der Rest von ihm war unscharf, die Farben matt. Aber an diesem Hauch von Haselnussbraun habe ich lange gearbeitet …

„Mr. Beckham.“

Ich habe mich verbeugt. Das war nicht meine Absicht.

Er trägt einen grauen Wollmantel, eine schwarze Schiebermütze und eine graue Jogginghose. Er ist barfuß und hat eine dicke, schwarze Sonnenbrille auf. Nur die Stimme ist die alte.

„Du musst K. sein …“

„Mr. Beckham, es ist sehr zuvorkommend von Ihnen, mich zu empfangen. Ich weiß, dass mein Brief etwas seltsam war.“

„Ach was.“ Er lacht, weniger schrill, als ich es in Erinnerung habe. „Es gibt nicht mehr viel, was ich seltsam finden könnte.“

„Mr. Beckham, dürfte ich Ihnen ein paar Fragen stellen?“

„Was immer Sie wollen.“ Sein Gesicht im Lampenlicht ist glatt wie Schiefer. „Ich hab nicht einmal Strom hierdrin. Es ist mir egal, was man draußen redet, ich weiß es nicht einmal.“

Man redet gar nichts!

„Es ist nur, könnten Sie, würden Sie bitte beschreiben, was passierte, nachdem die Porträts aufgehängt wurden. Wann fingen Sie an, sich … anders zu fühlen?“


Malini fühlte sich ziemlich schnell anders.

Es begann mit Unterleibsschmerzen, die sie fast die ganze Nacht aufschreien ließen. Ein Ultraschall an ihrem rechten Eierstock zeigte eine Zyste von zehn Zentimetern, die in einem Noteingriff entfernt wurde. Zwei Monate später war der Schmerz zurück, und die Ärzte entfernten eine noch größere Zyste, aber diesmal nahmen sie ihr auch den Eierstock heraus. Einen Monat später sagten sie ihr, dass sie Eierstockkrebs habe.

In meinen Gemälden begann ich Menschen zu malen, denen Haut- oder Fleischstücke fehlten. Ein Kritiker nannte mich „krank“.

Der Krebs sei noch in einem frühen Stadium, wurde uns gesagt, und habe noch nicht gestreut, aber er war aggressiv, weshalb sie sich einem Zyklus aus sechs Chemotherapie-Behandlungen mit Carboplatin unterziehen müsse, nach einer Reihe von In-vitro-Befruchtungen, für den Fall, dass die Chemos sie unfruchtbar machen würden.

Alles in allem verbrachte Malini zwölf Stunden unter Narkose, dreißig Stunden in Chemotherapie und war ein Jahr lang arbeitsunfähig.

Es war nicht gerade die beste Zeit für künstlerische Prinzipien.


„Wissen Sie, es war die Rede auf der Party. Alle haben mich angestarrt, aber ich konnte einfach nicht aufhören zu reden. Sie dachten, es wäre eine Verarschung, sogar die Zeitungen dachten das.“

Ich lächle. Es war nichts weiter geschehen, als dass David Beckham bei der Pressekonferenz, auf der die Porträts enthüllt wurden, aufgestanden war und unter einem wahren Blitzkrieg der Kameras über den Irak zu sprechen begonnen hatte.

„Als wir Blair wählten, dachten wir, die Schwerter würden zu Pflugscharen, aber er hat Bagdad in Brand gesteckt, und es war einfach nicht richtig. Ich verstehe nicht, wie er so viele Menschen töten konnte. Ich verstehe es einfach nicht …“

Als er zu weinen anfing, schritten seine Bodyguards ein und führten ihn ab.

Es ging durch die Zeitungen, aber hauptsächlich als Witz. BECKHAM HASST ENGLAND. Und ZICK IT LIKE BECKHAM. Ein paar linke Journalisten spendeten ihm Beifall - „er wird erwachsen“ -, aber die meisten Leute taten seine Worte als aufmerksamkeitsheischend ab, inklusive mir. Ich nahm an, sein PR-Berater hatte sie geschrieben und die Regieanweisungen gleich mit angegeben (tiefes Schluchzen).

Aber dann tauchte er bei einem L.A. Galaxy-Spiel mit Vollbart auf, und nach dem Spiel - in dem er zum dritten Mal ein Tor aus der eigenen Hälfte erzielte -, sagte er der Welt, er lehne es aus „Solidarität mit meinen muslimischen Brüdern“ ab, sich zu rasieren.

Die Rede war von „Islamo-Chic“ und „dem empathischen Fußballer“.

„Ich bekam Hassbriefe, aber die bekam ich schon immer. Ich lese sie für gewöhnlich eh nicht, aber ich habe etwas gespürt, K., etwas, das ich noch nie vorher gespürt hatte. Und ja, man kann es Mitleid nennen, wenn man will, aber da war auch eine Wut. Ich war noch nie so wütend.“

Gelinde gesagt, David Beckham flippte aus. Er ließ sich das Haar lang wachsen, und sein Bart schien kein Ende zu nehmen. Galaxy entließen ihn, aber nicht, bevor er ihnen und den ganzen USA empfohlen hatte, zur Hölle zu fahren.

Also kam er zurück nach Großbritannien, sagte der Presse, er wolle Botschafter im Iran werden. Er traf sich auch mit dem Premierminister. Aber er war bereits zu weit gegangen. Die Führungsriege sah keinerlei Vorteil in ihm. Er war ihnen schlichtweg peinlich.

Anerkennenswert: Victoria Beckham verteidigte ihn, wo sie nur konnte.

„David steht nur für das ein, woran er glaubt, seht ihr das denn nicht? Fotzen.“

Sie spuckte dieses Wort aus, ganz düster vor bitterer Liebe. Ich kenne solche Liebe: Ich habe sie bei mir selbst gesehen, jedesmal, wenn ich Malini zur Behandlung fuhr.

Aber dann ging er noch weiter. Er erklärte Großbritannien zum faschistischen Staat, der Reparationen an alle je kolonisierten Länder zahlen müsse, dazu an alle Mitbürger, die ethnischen Minderheiten angehörten und je angegriffen oder durchsucht worden waren. Er ging auf eine Reise in die „freie Welt“, nach Kuba, Libyen, Nordkorea, und mahnte in jedem Land, das ihn haben wollte, zu Solidarität gegen den Imperialismus.

„Ich wusste einfach, was ich sagen musste, K. Ich öffnete den Mund, und alles fühlte sich … richtig an.“

Zu diesem Zeitpunkt hasste ihn die Nation, und zwar mehr als jede andere öffentliche Person. Sein Bild war täglich auf den Titelseiten, jedoch nie nur mit Häme und Zorn, sondern immer mit Spott, der ihn als verrückt darstellte, eine Lachnummer. Comedians widmeten ganze Abende nur ihm; jede Zeitung wurde zum Boulevardblatt. Er war der Traum eines jeden Satirikers und Psychiaters.

„Ja, es hat wehgetan, K. Wenn du dächtest, jemand wäre geisteskrank, würdest du ihn dann auslachen? Würdest du das machen? Aber alle machten es. Es war so grausam, auf die Art und Weise, wie Kinder grausam sind. Noch heute höre ich manchmal dieses Gelächter. Deswegen bin ich um die Stille hier froh. Die Wände sind dick.“

„Und dann verließ Victoria dich. Das war das Schlimmste.“

Ich schenke uns beiden ein wenig Wein ein.

Es geschah, nachdem ein Journalist sich in sein Handy gehackt und Bilder von ihr veröffentlicht hatte, die sie nackt mit Kopftuch zeigten. Sie hielt es nicht mehr aus. Zu ihren Gunsten sei gesagt, dass sie darauf beharrte, ja, es fast schon von den Dächern schrie, dass sie ihn immer lieben würde. Sie nannte ihn durchgehend „mein David“, aber sie sagte auch, dass es ihr das Herz breche, ihn so zu sehen.

Wieauchimmer, ich glaube, er brauchte sie eh nicht mehr.

Er war schon auf einer anderen Ebene.


Am Tag vor Beginn der Olympischen Spiele kündigte Beckham an, dass er sich, wenn sich nicht alle angloamerikanischen Streitkräfte innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden aus dem Irak zurückzögen, öffentlich umbringen werde. Er gab nicht an, wo er sich aufhielt; alles, was wir wussten, war, dass David Robert Joseph Beckhams Leben in vierundzwanzig Stunden sein Ende finden würde.

Also warteten wir.

Ich dachte, er würde es bei der Eröffnungszeremonie tun, aber Malini bezweifelte es. Sobald er erschiene, würde die Welt einfach ihre Kameras ausschalten, und Fernsehen benötigte er eh nicht. Er könnte es überall tun und live im Internet streamen. Wieauchimmer, sagte sie, es sei doch klar, wo er sich verstecke.

Sie warf mir die Autoschlüssel zu.

Wir fuhren zusammen dorthin, zu dem Warenlager in Leytonstone mit der Glasdecke. Malini hatte recht. In einem schwarzen Judoanzug saß David Beckham auf dem Boden und starrte in einen Laptop. Es gab dort oben kein Wasser. Selbst auf der anderen Seite des Raumes konnten wir ihn noch riechen.

Während wir zu ihm hingingen, sagte er zu uns, dass es zu spät sei. Er hatte das Gift bereits getrunken. Geschätzte 1,5 Milliarden Menschen würden ihm jetzt dabei zusehen, wie er sich mit Schaum vor dem Mund ins Paradies würgte. Die Kamera - er deutete Richtung Wand - war bereits an.

Malini rannte zu ihm. Als Antwort darauf vollführte Beckham einen feinen, kleinen Wechselschritt, wie um einem Tackling auszuweichen, aber meine Frau - so dünn nach den Behandlungen, doch noch immer so lebendig - hielt an, vollführte eine Drehung wie ein Turner, griff in ihre Jacke und stach David Beckham ein Auge aus.


Er setzt die Sonnenbrille ab. Die rechte Höhle ist leer. Sie sieht geschmeidig aus, wie Schlangenhaut.

„Schätze, das war der Moment, wo alles aufgehört hat“, sagt er. „Ich erinnere mich an alles, doch nicht daran, was nachher geschah, nicht so gut jedenfalls. Wenn ich daran denke, fühlt es sich wie ein Film an, auf den ich mich nicht richtig konzentriert habe. Seltsam.“

„Aber, Mr. Beckham. Sie müssen doch wissen, warum ich hier bin …“

Diese legendären Füße dribbeln gleich womöglich mit meinem Kopf durch das Zimmer. Aber dafür bin ich hergekommen.


Als ich mein Porträt fertiggestellt hatte, fügte ich ein Extra hinzu, eine Miniatur, die so winzig war, dass man sie nur durch eine Lupe sehen konnte. Doch selbst dann musste man wissen, wonach man suchte.

Es war in einen hellen Punkt in der Iris seines rechten Auges gemalt. Kleiner als ein Reiskorn:

David Beckham in einem kleinen Haus im Irak, mit seiner Familie: Victoria, Brooklyn, Romeo, Cruz und Baby Harper. Ein Mörser geht zwischen ihnen hoch, von einem Panzer abgefeuert. Wir sehen die Schreie auf ihren Gesichtern, eine Feuerschlinge schließt sich um sie.

Ich habe einen Tierarzt als Freund. Er hat einem Hund einen bösartigen Tumor entfernt. Als ich ihn bat, ob ich ihn haben könnte, kannte er mich gut genug, um nicht nach dem Grund zu fragen.

Ich zerrieb den Tumor mit einem Stößel und mischte ihn in die Farbe.

Das kleine Drama, es ist aus Krebs gemacht.


Die Sache ist: Als ich ihn bei diesem Empfang sah, wo er weinte und weggebracht werden musste, konnte ich es in seinem echten Auge sehen. Ich weiß nicht, wie es dazu kam. Wie ein sechzehntes Tattoo hatte sich meine Miniatur um diese Glückspille gelegt.

Malini war es, die darauf drängte, dass wir ihn finden, wobei ich aber keine Ahnung hatte, dass sie das tun würde. Vom Krebs geheilt, sitzt sie nun im Gefängnis. Anderthalb Milliarden Menschen haben ihr dabei zugesehen, wie sie dem berühmtesten Fußballer dieser Welt ein Auge ausgestochen hat. Aber die Welt hasst sie nicht. Sie ist keine Myra Hindley. Sie haben sie einfach vergessen, so wie sie den Mann hier vor mir vergessen haben.

Beckham sagt nichts. Er blickt noch immer seine Schuhe an. Ich zähle bis hundert, stehe dann auf und gehe zur Tür.

Als ich sie öffne, sagt er leise:

“Danke.“

„Was?“

„Danke, K. Danke euch beiden.“

„Danke wofür?“

Von draußen höre ich ein Kind lachen, und es herrscht Schweigen.

„Für das hier.“


Erst, als ich im Wagen sitze, beginne ich zu verstehen. Das schmiedeeiserne Tor hat sich hinter mir geschlossen, und ein verwaschener, schwarzer Himmel ist zu sehen, die einsame Silhouette der Turmspitze. Vielleicht werden hundert Leute morgen hier vorbeigehen und … sich nichts denken.

Ich fahre los, die dunkle, unbelebte Straße hinab.

6.

Die ganze Welt lacht, und zwar lacht sie mich aus …

Mich?

Ich bin ein solcher Narzisst.

Die Kameras folgen doch ihr.

Zehn Millionen Menschen kennen ihr Gesicht. Sie kennen sie besser als ich.

Wer ich bin?

Ich bin „der Ehemann“. Nicht ein einziges Mal hat sie meinen Namen erwähnt, soviel ich weiß - aber sogar ich habe nicht genügend Stunden am Tag Zeit, um es sicher zu wissen.

Ich bin Analyst. Ein Mathe-Einserstudent in Cambridge, ein Doktor der Wirtschaftsmathematik. Ich entwickle Modelle für Preisgestaltung, Deckungsgeschäfte und Risikomanagement. Ich erkunde neue Wege, um im Wesentlichen wertlose Produkte für relativ hohe Summen bei Nullrisiko zu verkaufen. Meine Arbeit ist verwegen und elegant, ohne Schmutz oder Schweiß. Mein Leben ist - oder war es zumindest - sauber, wie die schnittigen Kanten an einem neuen Ferrari. Ein verwegenes, goldenes Paar, das London bumste wie Amors rachsüchtige Vettern, suchten wir nicht nach Liebe - wir waren zu glücklich dafür. Bis Gopi den ZERSTÖREN-Knopf drückte.

Darin trainiert, minutenkurze Fluktuationen zu überwachen, sah ich es nicht kommen. Ich verpasste den großen Knall.

Das gängige Unternehmensprozedere legte mir nahe, sie wie eine schlechte Angewohnheit fallenzulassen. Dass ich es nicht tat, machte mich zum Haftungsfall. Bei der Arbeit beobachten sie mich auf Anzeichen eines drohenden Zusammenbruchs hin, genau so, wie ich sie in diesem Fenster beobachte, das immer auf meinem Desktop geöffnet ist. Der Live Feed. www.bbliveuk.com.

Ihr Bruder, ihr echter Bruder sagte, es sei ihr einziger Ausweg gewesen.

„Von mir weg, meinst du.“

„Von euch beiden weg.“

„Wonach sucht sie denn da drin? Nach einem neuen Mann?“

„Nee.“

„Also ist es Eitelkeit?“

„Natürlich nicht. Sie weiß, dass man dabei nur mehr und mehr wie ein Arsch aussieht.“

„Was dann?“

„Die Realität, Krish. Sie sucht nach der Realität.“

Da drin?“

Ja, da drin. Da drin mit den Bewohnern von Küchenabflüssen und Sozialamtsschlangen, die ihre Drogen in Kapuzen verstecken und davon träumen, Fußballer zu heiraten. Die Gischt vom Arsch der Nation. Die, die dem „Britain“ das „Great“ genommen und es durch „Little“ ersetzt haben. Darf ich Sie, meine Damen und Herren, mit den Menschen bekannt machen, mit welchen meine Frau ihre Tage und Nächte verbringt:

1. Shanice. Eine schwarze Frau aus Essex, eine Friseuse, die sich selbst „Stylistin“ nennt. Sie hatte, als sie reinkam, Fingernägel, die fünf Zentimeter lang waren, jeder mit der Flagge einer anderen Nation lackiert. Sie schnitt sie in Woche drei ab und weinte. In der Streit Night nannte Shanice Gopi eine „verklemmte, dumme Tussi“. Gopi antwortete mit: „Dein Haar sieht aus wie Yakfell.“

2. Kurt. Trägt Tangas in vielen Farben, steht jeden Morgen nackt auf dem Bett, lässt die Hüften kreisen und singt dabei „Shake your Bonbons“. Kurt ist ein erfolgreicher Restaurator. Besitzt drei Wohnungen in Westlondon. Redet nicht viel mit Gopi, schlägt sich bei Streitereien aber auf ihre Seite. Wahrscheinlich hat er Angst vor ihr. Schwul.

3. Camilla. Eine ständige Debatte im Haus: Ist sie wirklich so vornehm? Ging sie wirklich mit Kate Middleton zur Schule? Mit einer Ausnahme beschlossen alle, sie für ein Fake zu halten, doch wir, die Öffentlichkeit, wissen, dass das nicht stimmt. Camilla ist mit der Familie Spencer verwandt. Sie scheint die Ungewissheit zu genießen. Vielleicht ist auch sie auf der Suche nach der sagenumwobenen „Realität“. Blond mit einem Pferdegesicht, leitet sie ihre eigene PR-Firma und pendelt zwischen New York und London. Sie und Gopi hatten einen „Rassenstreit“, als Camilla das Wort „Kuli“ benutzte. Shanice war auf Camillas Seite, sagte: „Schneid mir ins Fleisch, und wir beide bluten“, und: „Ich fühle mich vom N-Wort nicht beleidigt.“ Eins a Fernsehen.

4. Dragon. Karatelehrer und Tattoo-Aficionado aus Newcastle. Verlor in Woche vier die Beherrschung und trat gegen das Waschbecken, bis es herunterfiel und zersprang. Security-Leute mussten reinkommen und ihn bändigen. War betrunken. Zerriss sich das Maul über Camilla und wie sie „zuhause sicher einen Fußballer sitzen“ habe. Sie sagte, natürlich ganz vertraulich, dass er „echt süß“ sei.

5. Gary. Verliebt in Gopi, armer, unglückseliger Narr, und Bauarbeiter (um Gottes willen) aus Cardiff. Wenn Gopi morgens in ihrem Pyjama aufrecht im Bett sitzt, berührt Gary sich unter der Bettdecke. Mehr ist über Gary nicht zu sagen.

6. Karim. Ehemaliger Steuereintreiber aus Manchester mit starken politischen Meinungen. Karim wird von rundum allen Mitbewohnern verspottet, denn sie finden ihn monoman und humorlos. Er mag keinen, wird wütend, wenn er betrunken ist, und isoliert sich. Könnte ein Psychopath sein.

7. Gopi. Ehemalige Anwältin aus Oxford, jetzt Bewohnerin von Bloomsbury, London. Attraktiv, mit rasiermesserscharfen Sitzungssaalbeinen, antwortet auf Garys Annäherungen mit gelegentlichen Flirts. Sagt hin und wieder Negatives über ihren Mann. Würde sie verdächtigen, von Prolls gefickt zu werden, würde ich das Gesamtbild nicht kennen.

Es gab noch fünf andere, schon herausgewählt, hungrige Gespenster, die jetzt an den Rändern der Gesellschaft herumstreunen und erzählen, wie ihre fünfzehn Minuten ihre Leben ruiniert und die karmischen Wege verschüttet haben.

Es ist jetzt 8:58 Uhr morgens. Los geht’s.


INNEN - SCHLAFZIMMER - TAG

ERZÄHLER

Tag 37, 10:34 Uhr. Alle Hausbewohner sind im Schlafzimmer.

Jemand weint im Dunkeln. Die Lichter gehen an, und ein Big-Ben-Wecker ist zu hören. CAMILLA reibt sich die Augen und schluchzt. GARY zu KARIM, lautlos: „Was ist mir ihr?“

KARIM

Alles in Ordnung, Camilla?

CAMILLA

Nein, nichts in Ordnung.

CAMILLA geht aus dem Schlafzimmer.

INNEN - TAGEBUCHZIMMER - TAG

CAMILLA sitzt auf dem Tagebuchzimmerstuhl (im Design eines großen Toilettensitzes) und schluchzt.

BIG BROTHER

Lass dir Zeit, Camilla.

CAMILLA nickt, die Hand über den Augen, und weint weiter.

INNEN - SCHLAFZIMMER - TAG

GARY

Hör mal, ich mach keine Witze, ich schwöre, die hat mit dem Weinen gewartet, bis die Kameras an waren.

SHANICE

Warum sollte sie das tun?

GARY

Sympathisch rüberkommen und all das Gedöns.

SHANICE

Sie sieht fertig aus.

GARY

Klar tut sie das. Ist trotzdem nur Show.

DRAGON

Gary, tu nicht so, als wüsstest du, was in ihr abgeht.

GARY

Also warst du doch in ihr drin, oder was?

DRAGON

Komm her und sag das nochmal.

GOPI

Ach, lasst es, ihr beiden.

Alle schweigen.

INNEN - TAGEBUCHZIMMER - TAG

BIG BROTHER

Camilla, Big Brother sieht, dass es dir nicht gutgeht. Möchtest du erklären, was los ist?

CAMILLA

(Seufzt.) Ich habe es einfach so satt, ständig beurteilt zu werden, Big Brother. (Putzt sich die Nase.) Ich bin wie in einer Schleife, nominiert werden, überleben, ehrlich sein, beurteilt werden, nominiert werden, überleben. Die Hausbewohner hassen mich alle, weil ich bin einfach ehrlich, aber die Leute draußen wissen, dass ich die Wahrheit sage.

BIG BROTHER

Big Brother versteht, dass das Leben im Haus einem emotional einiges abverlangen kann und manchmal eine große Anstrengung ist. Aber, Camilla, oft hilft es am meisten, mit deinen Mitbewohnern zu reden.

CAMILLA

Aber du vertraust jemandem, und dann … zum Beispiel, Shanice ist ja angeblich meine Freundin, aber dann sagt sie, ich bin nur diese Schulgöre, die ihr ständig hinterherrennt, weil sie schwarz ist. (Schluchzt, Gesicht in Händen.)

INNEN - SCHLAFZIMMER - TAG

GARY

(Flüstert zu KURT im angrenzenden Bett.) Ist Gopi weg?

KURT

Ich glaube, sie ist im Badezimmer.

GARY

Camilla redet da drin bestimmt über uns.

KURT

Klar.

GARY

Raff ich nicht. Als wenn sie ständig Drama braucht.

KURT

Es ist eine Art, mit den Dingen klarzukommen. Ich hol mir lieber einen unter der Decke runter.

GARY lacht, sieht aber unentspannt aus.

INNEN - TAGEBUCHZIMMER - TAG

BIG BROTHER

Big Brother ist stets hier, falls du reden musst, Camilla.

CAMILLA

Super. Cool. Danke, Big Brother. (Putzt sich die Nase.)

INNEN - WOHNZIMMER - TAG

ERZÄHLER

11 Uhr 15. Die Hausbewohner haben sich im Wohnzimmer versammelt.

BIG BROTHER

Heute ist, wie einige von euch vielleicht wissen, Gopis Geburtstag.

GARY

Echt?

SHANICE

Wusste das sonst noch jemand?

CAMILLA

Das hättest du uns sagen sollen, Liebes. Herzlichen Glückwunsch. (Umarmt Gopi.)

GARY

Ja, Scheiße, Happy Birthday! Ich kann’s kaum glauben. (Steht da und umarmt Gopi fest, küsst ihre Wange.)

BIG BROTHER

Gopi, bitte schau auf den Bildschirm.

Ein FERNSEHBILDSCHIRM erscheint auf der gegenüberliegenden Wand. Gopis BRUDER und SCHWÄGERIN sind auf dem Bildschirm zu sehen.

SCHWÄGERIN

Hey, Gopes, alles Liebe und herzlichen Glückwunsch. Hab Spaß und Glück. Du machst das alles wunderbar!

BRUDER

(Wirft Kusshand.) Muahh! Happy Birthday, Süße. Einen ganz tollen Tag dir!

Bildschirm wird schwarz. GOPIS MUTTER erscheint.

Ich Lache Mir Den Scheißarsch Ab und mache mir einen Drink. Dieses Sologelächter, für die Wände, für die Schatten, kann selbst ein eigenes Leben annehmen. Mein Lachen ist mein Freund. Ich sage, verfickt noch eins - Gopis Mama hat Ich liebe dich gesagt.

Das Lachen sagt, Du Bist Neidisch, Krish.

Ich sage, Du Kennst Mich Nicht, Lachen.

Lachen sagt, Ich Weiß, Dass Ich Nicht Wirklich Bin, Krish. Aber Da Ist Keine Freude In Dir.

Ich lache nicht noch einmal.

Es war, als würde sie von einem Teleprompter ablesen.

„Wollte nur sagen, genieß die Zeit, und wir alle feuern dich an. Ich liebe dich.“

Vielleicht hat sie es von einem Teleprompter abgelesen. Dumme Scheißhure.

Der Schatten sagt, Und, Krish, Wann Hast Du Das Jemals Gesagt.

Muss Ich Nicht. Wir Glauben Nicht An So ‘Nen Scheiß.

Bang & Olufsen sagt, Also, Leute, Können Wir Uns Alle Bitte Mal Wieder Beruhigen. Schaut Mal!

Gopi weint. Meine gute, ungeliebte Frau weint. Um es vorsichtig auszudrücken, ist Gopi nicht die Sorte Frau, die weint. Das letzte Mal sah ich es, als sie im Wohnzimmer eine Jazz-Version von „Bohemian Rhapsody“ hörte. Später fand ich heraus, dass der Pianist ihr erster Freund gewesen war, ein Mathestudent in Oxford, der nach drei Monaten Beziehung sein Coming-out hatte. Ich habe ihn einmal bei Jules Holland gesehen, mit einer Federboa und Blockabsätzen. Sie hat ihn nie erwähnt, und wir haben nie über ihn gesprochen.

Meine Frau steuert, wie auch der Rest, das Tagebuchzimmer an. Setz dich besser, Krish. Jetzt wird’s emotional.

INNEN - TAGEBUCHZIMMER - TAG

BIG BROTHER

Gopi, Big Brother hofft, dass dir deine Überraschung Freude bereitet hat, und versteht, wenn dich jetzt die Gefühle übermannen. Gibt es irgendetwas, worüber du gerne reden würdest?

GOPI

Nein, danke.

BIG BROTHER

Warum weinst du, Gopi?

GOPI

Aus Gründen, die du nicht verstehen würdest.

BIG BROTHER

Big Brother versteht, dass es Stress bedeuten kann, plötzlich mit der lieben Familie konfrontiert zu werden.

GOPI

(Lacht lange und laut.) Idiot.

BIG BROTHER

Du kannst hier so lange bleiben, wie du willst, Gopi. Heute ist dein Tag.

GOPI geht aus dem Tagebuchzimmer.

INNEN - WOHNZIMMER - TAG

GOPI tritt ins Zimmer und glotzt. BJÖRK steht auf einem silbernen Podium in der Mitte des WOHNZIMMERS.

BJÖRK

(Hört sich an wie eine E-Geige.) Happy birthday to you. Happy birthday to you. Happy birthday, dear Gopi. Happy birthday to you.

GOPI und BJÖRK umarmen sich.

GLEICH NACH DER WERBUNG

AUSSEN - GARTEN - ABEND

BJÖRK

(Steht im Steingarten.) Erklärt eure Unabhängigkeit! Lasst Das Nicht Mit Euch Machen!

Die HAUSBEWOHNER jubeln.

WERBUNG.

Ich weiß, dass Gopi alle Alben hat und auf ein paar Konzerte gegangen ist, als sie noch zur Uni ging. Aber vor allem erinnere ich mich an einen heftigen Streit, in dem ich Björk „Barmusik“ nannte und Gopi meinte, ich sei ein ignorantes Schwein. Wir gingen ins Bett und hatten Sex, und sie sagte dann mit Nachdruck: „Ich liebe sie.“

Ich weiß nicht, ob ich schon gegessen habe oder nicht.


Morgen.

Ich sitze mit Kaffee am Schreibtisch. Wir sind hier im achtundvierzigsten Stockwerk. Aus dem Fenster kann ich die kleinen Leute herumwuseln sehen. Ich mache nicht nur Geld, ich erschaffe es. Ein abgründiges Genie, nur ich und ein paar hundert andere wahren all die Geheimnisse dieses binären Universums. Wird Gary meine Frau ficken? Oder wird Björk Gopi für unabhängig erklären, mit einer Pernod-Flasche gegen ihre treppengestählten Schenkel gepresst? Offen gesagt, bin ich zu high, als dass es mich interessieren würde.

Um zwölf Uhr gehe ich ins Fitnessstudio und schwimme vierzig Bahnen. Meine Dusche ist kalt wie Schnee vom Himalaya. Nach Muscheln und Hoegaarden komme ich zurück und finde einen Zettel auf meinem Schreibtisch vor. Chris, komm so schnell als möglich her. Oberster Stock. WB.

Walter Bently ist mein Boss, ein Mann, der nicht mit Gold aufgewogen werden kann. Er nennt mich Chris, weil er wahrscheinlich glaubt, dass ich so weiß wie er bin. Das passiert: Ich bin halb anglo-indisch, wie Sebastian Coe, und halb parsisch, wie Freddie Mercury. Wenn es jemand anderes wäre, würde ich ihn korrigieren, doch Walter Bently kann mir an jedem Tag im Jahr einen neuen Namen geben, wenn er will. Er ist, ganz buchstäblich, Gott.

Mit feuchten Händen und einer mystischen Empfindung in der Brust rüste ich mich für den Berg Sinai.


Wir sind im Restaurant, achtzigster Stock. Unten schwitzt London, schwer und plump. Die Regeln missachtend, zündet Walter sich eine Marlboro an, mit einem dieser langen Holzstreichhölzer. Er nippt am schweren Burgunder, bietet mir jedoch keinen an. Walter hält nichts davon, wenn Angestellte auf Arbeit trinken. Sein Held ist J. Edgar Hoover.

„Schon gehört?“

Er wartet nicht auf die Antwort. Er schiebt einen Laptop über den Tisch und drückt Play. Es ist ein Video.

„Scheiße“, sage ich.

„Ja“, sagt Walter. „Scheiße.“

„Was soll ich tun?“

„Geh rüber. Die erwarten dich.“

„Du meinst …?“

Aber Walter geht schon weg. Er muss noch andere Welten retten. Ich schaue mir das Video erneut an und kann nicht glauben, was ich sehe.

INNEN - WOHNZIMMER - NACHT

BJÖRK

Wir sind keine Terroristen. Wir sind einfach nur fucking Isländer, weißt du?

KARIM

Genau wie Thatcher bei den Falklandinseln.

GOPI

Island war nie „praktisch bankrott“. Das kann ich euch mit Sicherheit sagen. Er hat gelogen.

KARIM

Klar hat er das.

BJÖRK

„Brown“ ist die Farbe von Kacke. Das singen sie in Reykjavik.

CAMILLA

Versteh ich nicht. Das fällt doch in die Verantwortung des Premierministers, oder? Das ist seine Aufgabe.

BJÖRK

Er hat das Anti-Terror-Gesetz benutzt, um isländische Vermögen einzufrieren. Das verursachte einen Ansturm auf unsere Banken. Alle versuchten, ihr Geld abzuheben, aber es ging nicht, weil das Geld in England war und Gordon Brown es nicht herausgab.

KARIM

Und dabei beschmiss er die britischen Banken mit Geld.

BJÖRK

Warum Island schikanieren? Das sollte er mal mit Deutschland versuchen, oder Amerika.

GOPI

Es ist ganz klar eine Verletzung internationalen Rechts.

BJÖRK

Und ich sage dir noch was, Gordon Brown, „schenk“ den Banken nur weiter Geld, aber wessen Geld ist es, das du da verschenkst?

KARIM

Unseres.

BJÖRK

Deshalb müssen wir alle uns unser Geld zurückholen. Erklärt eure Unabhängigkeit. Wir sollten alle Gold kaufen und es im Keller verstauen. Wir brauchen keine Banken. Und wir brauchen dich nicht, Gordon Brown. „Brown“ ist die Farbe von Kacke.

HAUSBEWOHNER

„Brown“ ist die Farbe von Kacke.

Elstree Studios, Borehamwood, Hertfordshire. Der Regieraum. Vierhundert Produzenten sichten das Live-Material von achtundzwanzig Kameras und sechzig Mikrofonen, die auf die „Kandidaten“ gerichtet sind. Sogar der Live Feed hat eine zehnminütige Verzögerung eingebaut, damit sie Beleidigungen herausschneiden können, die sich auf Nicht-Hausbewohner beziehen; aber in Bezug auf die Brown-Affäre dachten sie, es wäre besseres Fernsehen, wenn sie es drin ließen. „Politiker sind schließlich Freiwild.“ Unglücklicherweise ging das an der Sache vorbei, deren Gopi von allem Anfang an gewahr war. Diese Leute haben in ihrer brüderlichen Idiotie den Aufruf zur Apokalypse ausgestrahlt.

Zehn Millionen Menschen haben zugehört, wie sie es gesagt hat, und jetzt haben sie ihre Direktiven. Sie heben bereits ihr Geld ab. Millionen über Millionen. Wenn wir das nicht unterbinden, werden die Banken wie Durchfall aus einer schlaffen Elefantenkimme auslaufen. Die Rache der Nordländer.

Ich kann noch immer nicht glauben, was diese kreischende Zwergin gesagt hat. Islands BIP liegt bei 12,59 Milliarden Dollar, und sie haben Kredite aufgenommen, als wären sie Fort Knox. Der IWF, die EU, jede Bank in der zivilisierten Welt - keiner fasst sie an, nicht einmal mit einem Eispickel. Brown hat die Wahrheit gesagt: Fremdfinanziert bis zum Anschlag, mussten sie einfach zahlen. Der globale Derivatenmarkt schaltet sich bei 600 Billionen Dollar ein, und diese Isländer konnten dem nicht widerstehen, weil sie es satt hatten, so klein zu sein. Der Napoleon-Komplex. Oder soll ich gleich Hitler sagen? Früher oder später kriegt dich der D-Day. Aber Popstars haben keine Ahnung von Finanzen.

Gopi und die Zwergin trinken seit vierundzwanzig Stunden durch. Sie machen immer weiter mit ihrem hirnverbrannten Hormongeplapper. Die anderen Prolls haben sie alleine gelassen. Die ganzen Jahre in Oxford, Princeton, bei White & Case, nur für das hier …

AUSSEN - GARTEN - TAG

BJÖRK

(Zündet sich eine Zigarette an.) Ich habe die Menschen früher nicht verstanden. Ich mochte die Berge, das Meer, Kinder, Tiere. Erwachsene fand ich finster und chaotisch. Oder nur albern, in ihrem ständigen Bemühen, „Sinn zu machen“. Aber jetzt mag ich sie ein bisschen mehr. Sie finden mich vielleicht seltsam; ich finde sie vielleicht seltsam; aber es gibt eine Menge seltsamer Dinge in der Natur, so dass man sich bald fragt: „Wie kann etwas seltsam sein, wenn es doch natürlich ist?“ Alles kackt ab, wenn man sagt: „Ich will nicht natürlich sein; ich will so und so sein.“ Ich meine, kannst du dir einen Felsen vorstellen, der sich selbst nicht mag, oder ein Pferd? An einem bestimmten Punkt muss man einfach seine Unabhängigkeit erklären und nein sagen, das könnt ihr mit mir nicht machen. Das lasse ich nicht zu.“

ERZÄHLER

Könnte Gopi bitte ins Tagebuchzimmer kommen?

Sie stecken mir ein Mikrofon ans Revers, und ich spreche in die Kamera.

„Gopi, hier ist Krish.“

Krish! Wow, wir geht es dir, Krish?“

„Wie es mir geht? Begreift ihr eigentlich, was ihr getan habt, ihr beiden?“

Sie sieht lächerlich aus, trägt ein gestreiftes Kleid mit Kapuze und Hiphop-Schuhe von Adidas.

„Hier drin können wir nicht viel tun, Krish.“

„Ihr verursacht einen Ansturm auf die Banken, Gopes. Die Leute machen, was sie ihnen gesagt hat, erschaffen ihre eigenen Währungen mit Papier und Tinte, kaufen Gold, horten es unter ihrem Bett. Wenn das so weitergeht, sind wir alle am Arsch.“

„Wirklich?“

„Wirklich.“

„Wow. Das ist einfach … cool.“

„Gottverdammte Scheiße, Gopi. Das ist wirklich ernst …

„Okay, Krish, ich muss los. Pass auf dich auf.“

„Ihr müsst den Leuten sagen, dass sie ihr Geld wieder einzahlen müssen, Gopi …“

Gopi hat das Tagebuchzimmer verlassen.

INNEN - WOHNZIMMER - NACHT

Alle HAUSBEWOHNER außer GOPI sind im Wohnzimmer.

GARY

Ich hole Gopi. Sie hat kaum mehr was gesagt, seit Björk weg ist.

SHANICE

Lass sie in Ruhe, Gaz.

DRAGON

Ja, du wirst der Letzte sein, den sie jetzt sehen will.

GARY

Und, schon bei Camilla gelandet, Dragon?

DRAGON springt auf und will GARY gegen den Kopf treten, verfehlt ihn nur um Zentimeter und lässt eine Salve von Schlägen folgen.

BIG BROTHER

Könnte Dragon bitte ins Tagebuchzimmer kommen.

Dragon zeigt der Kamera den Mittelfinger.

GARY

Dann komm, Dragon. Bringen wir’s hinter uns.

CAMILLA

Tu’s nicht, Dragon. Die schmeißen dich raus.

BIG BROTHER

Könnte Dragon bitte ins Tagebuchzimmer kommen.

DRAGON geht zur Tür und tritt und schlägt sie wiederholt, bevor er hinausgeht. Die HAUSBEWOHNER sitzen schweigend da, bis GOPI hereinkommt, ihren KOFFER in der Hand.

GOPI

Okay, ich bin draußen.

CAMILLA

Liebes, nein. Sag das nicht.

GARY

Brauchst du eine Umarmung?

GOPI

Wisst ihr, mit wem ich gerade geredet habe? Mit dem Premierminister.

GARY

Bitte was?

GOPI

Er hat mir gesagt, dass wir das Land ins Chaos gestürzt haben, und jetzt muss ich allen sagen, dass sie ihr Geld wieder auf die Bank tun sollen, und wenn ich das nicht mache, werde ich dank des Anti-Terror-Gesetzes rausgeworfen.

KARIM

Scheißfaschist.

GARY

Aber du hast damit gar nicht angefangen; das war Björk. Die sollte sich verdammtnochmal entschuldigen.

GOPI

Tja, wird sie nicht, und ich auch nicht.

SHANICE

Tu’s einfach, Gopi. Bleib. Du hast eine echte Chance, das hier zu gewinnen. Das sage ich nicht nur so.

GARY

(Bricht plötzlich in Tränen aus.) Ich will einfach nicht, dass du gehst, Gopi.

Ich fuhr nach Mayfair zurück und ging ins Ithaca’s, um ein frühes Abendessen mit zwei brasilianischen Escortladies zu mir zu nehmen. Die übliche Ware, sonnengebräunt mit langen Beinen. Weiß nicht mehr, worüber wir sprachen. Eine der beiden hatte das Haus auch verfolgt. Ich erzählte ihnen, dass Gopi meine Ex-Frau war.

Zwei Flaschen Chablis später lasse ich den Porsche vor dem Restaurant stehen, und wir nehmen ein Taxi nach Hause. In der Nähe der Tottenham Court Road wirft eine Frau im Leopardenrock Dreck ans Fenster der HSBC-Bank. Die Geldautomaten sind leer, aber die Prolls revoltieren noch immer.

Die Mädchen wollen mir im Taxi einen blasen, aber Mr. Happy geht’s nicht gut. Sie müssen mir in die Wohnung helfen. Als ich es schließlich schaffe, die Tür zu öffnen, grüßt mich auf der anderen Seite ein Mann mit rasiertem Kopf. Ich kenne den Mann.

„Hey, Krish“, sagt Gopi auf dem Sofa. „Das ist Gary.“

Gopi trägt dieses Kleid, das mit der Kapuze, das die Zwergin ihr geschenkt hat. Die Mädchen scheinen sie nicht zu stören, aber ich sage ihnen, dass sie Land gewinnen sollen, und drücke ihnen Fünfziger in die Hände.

O Gott.

Es sind nicht nur Gopi und Gary, sondern auch Shanice, Camilla, Kurt, Karim; sie sind alle hier, drehen Joints, trinken Wein, liegen auf dem Teppich.

„Was ist denn hier los?“

„Die Revolution“, sagt Karim.

„Macht, dass ihr wegkommt“, sage ich zu ihnen. „Alle.“

„Och, reg dich nicht so auf“, sagt Shanice. „Pflanz dich einfach wohin.“

„Lasst uns alle ruhig bleiben“, sagt Gary. „Wir wissen, dass das für ihn ein Schock sein muss.“

„Verpisst euch!“, sage, nein, schreie ich. „Raus aus meinem Haus.“

Auf dem Weg nach draußen gibt mir Gopi das Armband, das ich ihr zu unserem ersten Jahrestag geschenkt habe. Ich lese die Gravur. DIE WELT GEHÖRT UNS.


Und jetzt bin ich allein. Wieder allein.

Lachen sagt: Sie Ist Weg, Krish. Und Du Weißt, Es Ist Für Immer.

Schatten sagt: Es Ist Einsam Hier. Wünschte, Sie Kämen Alle Wieder.

Bang & Olufsen sagt: Vergiss Sie, Baby. Alles, Was Du Brauchst, Bin Ich!

AUSSEN - BOREHAMWOOD - DER LAUFSTEG VOR DEM BIG-BROTHER-HAUS - NACHT

DAVINA steckt in einem glitzernden, schwarzen Kleid und hält ein Mikrofon. Die MENGE skandiert „Davina, Davina!“, und jemand schreit „Gary!“.

DAVINA

Meine Damen und Herren. Der Gewinner des diesjährigen Big Brother ist … Dragon!

DRAGON erscheint in einem schwarzen Kung-Fu-Anzug oben auf der Treppe. Nebel wallt um ihn. Feuerwerk explodiert. Die Menge schreit, als er die letzten vier Stufen hinunterspringt, einen Kick in der Luft ausführt und dann sanft auf den Füßen landet. Er schlendert zu DAVINA hinüber und hebt sie hoch, trägt sie auf den Armen. Konfetti rieselt auf sie hinab.

DAVINA

Meine Damen und Herren: Dragon!

MENGE

Dragon, wir lieben dich!

DAVINA

Dragon, wie fühlst du dich?

DRAGON

(Setzt sie ab.) Ich wusste, dass ich gewinne. Ich wusste es.

DAVINA

Unter den schrägsten Umständen überhaupt. Sechs spontane Abgänge. Was hältst du davon?

DRAGON

(Hebt die Arme über den Kopf.) Wooooh! Wooooh!

DAVINA

Gibt es noch etwas, das du deinen Fans sagen möchtest, Dragon?

DRAGON

Wooooh! Wooooh!

Ich suche den Whiskey. Vermute, Kurt hat ihn mitgehen lassen, als er ging. Finde stattdessen das Fenster und mache es auf. Der Bürgersteig, achtundzwanzig Stockwerke tiefer, sagt: Tu Es, Krish, Mach Mich Glücklich.

Ich gehe zurück ins Wohnzimmer und starre in den Bildschirm, der immer heller aufglüht. Ein brennender Busch. Hinter den Bildern sehe ich mein Gesicht in der Spiegelung.

Das Ist Nicht Wirklich, sage ich mir. Das Ist Nicht Wirklich.

7.

„Ehrenwerte Mitglieder …

Die Oxford Union, zusammen mit der Asia Society der Oxford University, hat heute die Ehre, Mr. Swami Saint bei uns begrüßen zu dürfen.

Geboren als Sanjeev Ravindran und aufgewachsen in London, studierte Mr. Saint Mathematik am New College …“. Ein Hoch- und mehrere Buhrufe. „ … schloss 1990 ab. Nachdem er drei Jahre als Kellner und Barpianist in Cocktaillounges verbrachte, unterschrieb er bei EMI und brachte seine erste LP heraus, Shades of Mind. Der Rest ist, wie man sagt, Geschichte …

Mr. Ravindran nahm das Pseudonym Swami Saint an und wurde zu einem der erfolgreichsten Jazzmusiker Großbritanniens, berühmt für seine diamantenbespickten Sandalen und Designerturbane, seine technische Virtuosität und für seine präzisen, erfrischenden Kompositionen. Als Solopianist und mit seinem Trio, Solar 3, ist er auf der ganzen Welt getourt. Er hat vierzehn Alben produziert und mit einer eindrucksvollen Reihe von Künstlern von Brian Eno bis Courtney Pine zusammengearbeitet. Im Alter von heute siebenundvierzig Jahren hat Mr. Saint schon mehr erreicht als so mancher Musiker in seinem ganzen Leben. Der New Musical Express beschrieb ihn als „den ultimativen Jazz-Fashionisten, ohne den die musikalische Welt so trist wie kalter Tee an einem Novembermorgen in Staines wäre“.

Verhaltenes Gelächter.

„Meine Damen und Herren, begrüßen Sie bitte Swami Saint.“

Der Präsident schüttelt mir die Hand. Da er von einer Karte abgelesen hat, vermute ich, dass er keine Ahnung hat, wer ich bin. Ich will das hier nicht machen. Ich habe auch keine Ahnung, wer ich bin.

„Danke, Herr Präsident. Danke, werte Mitglieder. Es ist eine große Ehre für mich, hier sein zu dürfen. Ich entschuldige mich, etwas unpassend gekleidet zu sein, aber das hier ist, genau genommen, kein Konzert. Lassen Sie es uns eher als eine Art Operation ohne Betäubung ansehen, als eine Weise, in meinen Kopf einzudringen. Was der Präsident nicht erwähnt hat, ist, dass ich auch einen Promotionsstudiengang über die Makrostrukturen des Klangs, wie er sich in klassischer karnatischer und drawidischer Musik findet, begonnen habe. Ich gab es auf, als ich erkannte, wie viel Arbeit das Ganze wirklich bedeutete, aber es war eine absolut exzellente Gelegenheit, einen Großteil der Musik nachzuholen, die ich sonst verpasst hätte.

Musik, müssen Sie wissen, ist mir teurer als das Leben selbst; alle Arten von Musik, nicht nur Jazz - wiewohl hierin meine Fachkompetenz liegt. Tatsächlich sehe ich mich mehr als Hörer denn als Musiker, einer, der sich in Komposition versucht hat und seine eigenen Unzulänglichkeiten hinter einem dünnen Vorhang aus Extravaganz und bedeutungsloser Idiotie zu verstecken sucht.“

Sie lachen nicht, diese Oxford-Studenten. Fast alle sind sie Südasiaten, was wohl bedeutet, dass sie keine Jazzfans sind. Vielleicht sind sie gekommen, um sich inspirieren zu lassen. Das alte Klischee: „Wenn der das schafft, dann werde wohl auch …“ Aber wirst du nicht, wirst du nicht. Man braucht Talent, Freunde.

Ach, ich verabscheue mich selbst.

Weiter und weiter leiere ich meine Rede herunter, gute fünfzehn Minuten, bevor ich ans Klavier gehe (ein schöner, schwarzer Steinway, spiegelblank poliert) und vorführe, wie ich meine Variationen und Übergänge aus kleinen Drei-Akkord-Melodien erschaffe. Ich rede über John Coltrane und My Favourite Things, zeige ihnen, wie sogar Werbejingles und Kinderlieder den gesamten Free Jazz in sich enthalten. „Es geht darum“, sage ich, „wie Blake es ausdrückte, die Welt in einem Sandkorn zu sehen.“

Ich verliere sie, das spüre ich. Diese Idioten.

„Und so ist die Essenz der Musik, wie die Essenz des Lebens selbst, die Zeit. Die Noten sind nicht von Belang, wenn sie nicht zur richtigen Zeit, in der richtigen Reihenfolge gespielt werden. Um Bananarama zu zitieren: „It ain’t what you do, it’s the way …“

Das war ein blöder Witz. Ich dachte, er könnte bei Studenten, die sich im Wesentlichen von Instantnudeln und Aldi ernähren, zünden, aber es ist durchaus möglich, dass nicht ein Einziger unter ihnen weiß, wer Bananarama ist.

Ich trete zum Applaus vor. Lauwarm, aber was soll’s. Jetzt kann ich endlich verschwinden. Verflucht seiest du, Frankie, ich hätte das hier niemals tun sollen.

„Mr. Saint wird so freundlich sein, noch etwa zwanzig Minuten Ihre Fragen zu beantworten, wonach es die Gelegenheit geben wird, zu …“

O Gott. Was stimmt mit dem Typen nicht? Er hat sich eine verdammte Flagge über die Schultern gestülpt, und er stellt nicht einmal eine einzige Frage. Er beatboxt. Und jetzt: „Om … Om … Om.“ Was soll das? Er redet auf Hindi. Ich habe keine Ahnung, was er verdammtnochmal sagt, aber alle lachen.

„Mr. Saint, oder sollte ich Mr. Ravindran sagen, meine Frage ist sehr einfach. Sie sind ein asiatischer Musiker. Ihr Name ist Swami Saint. Bei Ihren Shows tragen Sie Turban und Salwar. Aber was an Ihrer Musik ist asiatisch?“

Ich habe geantwortet, kalt, scharf, auf den Punkt. Das Outfit ist Extravaganz, Show, Performance. Ich trage die Farben, die mir gefallen. Was macht Kleidung denn „indisch“ oder „ethnisch“? Es ist bloßer Stil. Warum sich darauf konzentrieren, und nicht auf die Musik? Warum wird Bowie diese Frage nie gestellt?

„Weil er kein Inder ist, Sir, und er scheffelt keine Millionen, indem er seine Ethnie vorführt.“

„Wieso sind Sie sich so sicher, dass er es nicht tut? Hat er sein Englischsein nicht jahrelang verkauft? Hat ihm das nicht den Sprung über den Atlantik verschafft?“

Ja, ich füge einer ansonsten tristen und trostlosen Welt etwas Farbe hinzu. Eine Tasse Tee an einem kalten Morgen in der Hölle.

„Keine Musik ist asiatisch“, sage ich ihnen. „Keine Kleidung ist asiatisch. Kunst hat keine Ethnie.“

Und schon kommt jemand anderes, von der weiblichen Fraktion: Sie trägt einen Sari und einen Bindi. Es ist ein Dienstagabend in Oxford, Liebling. Das führt zu nichts.

„Was meinten Sie, als Sie sagten, dass Fusion das „Paarungsgrunzen der Mischlinge“ sei? Wollen Sie sagen, dass Hybridität unzulässig ist? Glauben Sie im Ernst, sie seien überlegen, weil …“


Vier Stunden später sitze ich an einer Bar. Hier habe ich bereits gesessen. Nein, ich stand meist hinter dem Tresen. Es war mein erster echter Job. Von fünf bis sieben habe ich Cocktails gemixt, und von sieben bis Mitternacht Klavier gespielt. „Sometimes When We Touch, Goldfinger, Under My Skin“. Das übliche Zeug. Fünfzehn Jahre her, aber es hat sich hier nichts verändert. Es hieß mal „Blues“, jetzt heißt es „Bellini’s“, und einen solchen trinke ich auch.


Drei Jahre lang habe ich hier gearbeitet, von 1990 an, als ich im vierten Jahr Mathe studierte und am einsamsten war. Mein Trio, das Mandelbrot Set, hatte sich aufgelöst. Sean und Anand waren nach London gezogen, als Anwalt und Rechercheur für den Economist. Ich war in Trauer, die von untröstlich bis hasserfüllt reichte. Als mein Vater starb und ich zur Beerdigung nach Hause ging, sagte meine Mutter, ich solle das Studium abbrechen; sie drehte mir finanziell den Hahn zu; sagte, sie könne es sich nicht leisten. Also habe ich hier jeden Abend gearbeitet, oft bis in den frühen Morgen, und wanderte in der Kälte über die Magdalen Bridge zurück.

Ich habe nicht geweint, als mein Vater starb, aber ich habe eine Variation auf den Trauermarsch geschrieben. Jede Note stürzte ab, wie ein Selbstmord von einem hohen Felsvorsprung an einem windigen Tag. Am Ende verlor sich das Stück in einer Art Spirale, bis die Ränder zerfransten und die gesamte Struktur verschwand. So, dachte ich, müsste wohl der Tod sein. Keine Struktur mehr.

Die Leute sagen immer, man müsse fühlen, aber für mich ist Denken wichtiger. Das ist Jazz. Die Gefühle denken. Es ist eine andere Art zu fühlen.

Mein Vater wusste nicht einmal, dass ich in einer Jazzband spielte.

Ich kann Sarah Vaughan hören.


Man lernt eine Menge Menschen kennen, wenn man in einer Bar arbeitet. Ich mochte keinen Smalltalk, aber es war Teil meines Jobs, den Leuten zuzuhören.

Im Frühling 1990 kam er das erste Mal vorbei. Meine erste Schicht war gerade zu Ende, mein Geist wärmte sich fürs Spielen auf. Hager war er, knochendürr, von der Farbe, die Klaviertasten kriegen, wenn sie zu lange der Sonne ausgesetzt waren, und sein Gesicht wies mehrere glattpolierte Wunden auf. Er trug auch eine Perücke, obwohl ich es nicht erkannte, und einen falschen Bart, dick und schwarz. Adlernase, große Zähne, und wenn er an seiner Zigarette sog, stieg ihm die Sehnsucht in die Augen. Ein Kind mit Heimweh in einem konservativen Anzug samt Hut. Er kam noch zweimal vorbei in jener Woche, und in der nächsten auch, bestellte immer eine Flasche Moët, trank sie in zwei Stunden aus und starrte dabei die feurigen Verführerinnen hinter der Bar an, die ihm zuzwinkerten und ihre Polyesterröcke hoben.

„Weißt du, ich glaube, ich habe seit zwanzig Jahren nicht mehr alleine in einer Bar gesessen.“

Er stellte sich als Farrokh vor. Seine Stimme war geschult, wenn auch mit einem deutlichen indischen Tonfall. Ich stellte mir vor, wie er in einem Smoking am Ufer des Ganges hockt und Hundertdollarscheine an die Katzen verteilt.

„Ich kann ungeduldig werden, aber ich meckere die Leute nie an. Ich klage nie. Das ist doch sowas von öde, mein Lieber. Die Zeit ist einfach zu kurz, um zu klagen. Aber nun muss ich es tun, denn es tut höllisch weh, und ich kann es nicht ertragen, ihre Träume zu zerstören. Darf ich?“

Ich nickte.

„Jetzt würde ich gerne weinen, Liebling. Hast du was dagegen?“

Ich hatte nichts dagegen, bedeutete ich ihm.

„Die Sache ist die: Du darfst sie nie sehen lassen, wie du weinst. Du musst immer was vortäuschen. Du musst das Spektakel sein, das sie sehen wollen. Versuch nicht, du selbst zu sein: Ist es nicht wert. Dieses Du ist nur das Du, das du selbst sein willst. Sei der, den sie wollen, oder besser noch, sei der, den sie brauchen, und sie werden dich dafür lieben, und du kannst sie im Gegenzug zurücklieben. Aber um Gottes willen, vertrau ihnen nicht. Herr im Himmel, was in aller Welt ist das? Verdi?“

War es. Va, pensiero. Zu Verdis Beerdigung im Jahr 1901 stimmte die Menge spontan den Refrain an. Und jetzt sang Farrokh ihn auch. Seine Kontrolle, seine Stimmlage, es war alles perfekt, und er sang über vier Oktaven, ein Stimmumfang, über den kein Jazzsänger verfügte, den ich kannte. Als ich die Augen schloss, sah ich Feuerwerkskörper, die so hoch aufstiegen, dass sie wie Planeten am Himmel glommen.

Als er ausgetrunken hatte, öffnete ich noch eine Flasche und setzte sie ihm vor. Ich würde sie zahlen. Ich würde das Geld schon zusammenkriegen.

Farrokh blieb, solange mein Set dauerte, und nahm in einer dunklen Ecke sein Abendessen zu sich. Etwa um Mitternacht kam er zu mir ans Klavier und sang einen Hindi-Song. Es waren nur noch ein paar Leute übrig, und er sang so leise, dass ich zweifelte, ob sie ihn hören konnten. Aber dann ging es los.

„Ach du Scheiße. Das ist -“

„Ist er nicht.“

„Ist er aber hallo. Ich sag’s dir.“

„Bring mich hier raus, Liebling.“

Ich musste einen Mann mit dem Ellbogen wegstoßen, der uns begrabschte, während seine Frau ihre Kamera umkrallte und versuchte, sie aus der Hülle zu kriegen.

„Mein Wagen steht da drüben.“

Ein schnauzbärtiger Fahrer in Schirmmütze wartete auf dem Bürgersteig. Ich half Farrokh hinein. Er war schwach, und als er sein Bein anhob, sah ich ihn zusammenzucken, bevor er wie ein Terrier aufjaulte.

„Entschuldige, Farrokh.“

„Es ist okay, mein Lieber. Komm her.“

Farrokh küsste mich auf die Wange und umarmte mich eng. „Im Leben geht es darum, es zu genießen. Genießen, hörst du? Sonst ist es sinnlos. Der Rest ist egal. Ich ging nie mit der Mode, weißt du. Sie lieben mich einfach so.“

Ich sah zu, wie er wegfuhr. Sein schwarzer Ferrari riss ein Loch in die sterbende Nacht von Oxford.

„Mr. Saint, Sie behaupten, mit Politik nichts am Hut zu haben, und doch haben Sie dutzendmal gesagt: ‘Ich bin ein Bürger dieser Erde; ich sehe mich nicht als Asiaten an.’ Ist das nicht ein sehr politisches Statement?“

„Warum haben Sie Ihr Album dann Karmic Visions genannt?“

„Sind Sie ein Teilzeit-Asiate?“

Es ist zu einer öffentlichen Hinrichtung geworden.

„Sie sagen, Sie nehmen sich Sachen aus vielen Kulturen; Sie sagen, Sie mögen Afro-Jazz und Samba, aber warum nehmen Sie dann nichts aus Ihrer eigenen Kultur? Wann spielen Sie endlich auch asiatische Musik?“

„Ach, weißt du was, fick dich.“

Manchmal hört man seine Stimme außerhalb seiner selbst; man weiß, man wird es bereuen, aber es ist nicht mehr man selbst, der da spricht.

„Was hast du überhaupt erreicht? Geh mal zurück studieren, du kleiner Scheißkerl.“

Schweigen im Debattierclub. Ich starre den Typen in die Knie, mit ausgebreiteten Armen. Ein sich selbst hassender, ordnungshütender Christ. No time for losers, ‘cause we are the champions …

„Fickt euch alle. Ihr seid hierhergekommen, um mir zuzuhören. Mir.“

Ich bin am Klavier und spiele. Schubert, glaube ich, das in „Toxicity“ übergeht, dann in meine eigene Komposition, und jetzt ein paar Variationen von „Bohemian Rhapsody“.

Ich spiele weiter und weiter. Sie verlassen den Saal. Ich höre jemanden, der Kraftausdrücke in den Raum schreit. Eine Socke fliegt vom Rang. Der Saal ist nur zu einem Viertel gefüllt, aber dennoch waren ein paar da oben. Es ist kalt hier drin, kalt und leer. Als Malcolm X sprach, verspotteten sie ihn auch. Ich wünschte, ich hätte einen Turban getragen. Dann könnten sie mich nicht sehen. Ich muss sie nicht wissen lassen, wer ich bin.

Ihr könnt mir nicht wehtun, ich bin berühmt.

Leute in Glashäusern sollten verdammte Burgen bauen.

„Mr. Saint, Mr. Saint, bitte. Wir müssen abschließen.“

Aber das ist in Ordnung. Da sind noch acht übrig, vielleicht zwölf. Sie nicken, klopfen mit den Füßen den Takt. Ihre Geister haben die Köpfe verlassen und wirbeln wie Zigarrenrauch an der Decke herum.

I will, I will rock you.

„Sir, die Gesellschaft würde Sie gerne noch zum Essen einladen, wenn Sie noch …“

„Natürlich möchte ich essen. Sehe ich so aus, als wollte ich nicht essen?“

„Natürlich. Verzeihen Sie, Mr. Saint.“

„Dann gehen wir los.“

Mein Gott, ich höre mich wie eine Oberdiva an, aber ich weiß nicht, wie anders mit diesen Leuten reden. Warum sind sie so scheißebesessen vom Asiatischsein?


Es war der 25. November 1991, als ich es herausfand. Ich saß, als es geschah, mit Sean zusammen, und wir warteten auf Anand. Es war unsere erste Reunion seit der Auflösung, und wir stritten. Ich warf ihm Ausverkauf vor. Er nannte mich eine Schwuchtel. Ich sagte, beide hätten mich nur rausgeworfen, weil sie zu ängstlich seien, sie selbst zu sein. Dann kam Anand mit der Zeitung herein, sagte, er habe beim Economist gekündigt und werde nach Manchester ziehen, um ein Anarchist zu werden. Ich lachte ihn aus, und er bewarf mich mit der Zeitung, aber ich sah die Schlagzeile schon, als sie noch durch die Luft flog.

Freddie Mercury war mit fünfundvierzig an AIDS gestorben. Geboren als Farrokh Bulsara, hatte er das Internat St. Peter’s bei Bombay besucht, dann St. Mary’s in Mazagon. Wenige wussten, dass er schwul war. Noch weniger, dass er Inder war. Kurz vor Schluss nahm er Songs nur mit der Drum-Machine auf, im Wissen, dass er tot sein würde, wenn der Rest der Gruppe die Tracks vollendete. Aber ich glaube, er hatte Spaß daran, ich glaube, er hatte Spaß an allem.

„Warum sind Sie nicht asiatischer, Mr. Mercury? Warum sind Sie nicht weniger schwul? Warum singen Sie nicht auf Hindi, auf Parsisch, auf Farsisch? Warum pfeifen Sie nicht auf Ihre Krone? Warum sind Sie nicht mehr, mehr, mehr, mehr?“

Er aber hätte in keinem Debattierclub gesprochen. Er hasste Interviews, besonders, nachdem der NME die Schlagzeile „Ist dieser Mann ein Trottel?“ gebracht hatte. Er lernte daraus. Wahrscheinlich war er Thatcher-Anhänger, obwohl er auf Nachfrage behauptet hätte, unpolitisch zu sein. Vielleicht ist das der Grund, warum die Leute ihn liebten, diesen „Liebhaber des Lebens, Sänger seiner Lieder“. Als er noch aufs College ging, sah man ihn einmal, wie er den Kopf in den Händen vergrub. Als man ihn fragte, warum, sagte er: „Ich werde nie ein Popstar sein“. Und stand auf, streckte den Arm aus und sagte: „Ich werde eine Legende sein.“

Wir sind jetzt im Restaurant, Jaipur Kitchen. „Asiatische Küche“ - ich schätze, um es von bloßer „Küche“ abzuheben. Ich versuche ihnen zu erzählen, dass ich Süd-Inder bin; dass wir das hier zuhause nicht essen, aber das gibt nur einen weiteren Minuspunkt. Die sind wie die Scheiß-Gestapo. Wenn ich jetzt nur ein Klavier hätte. Da hängt eine Sitar an der Wand. Ich überlege, sie herunterzunehmen. Ich bin ausgebildeter Geiger. Spiele sie, seit ich drei war, vor allem karnatische Musik, was ich diesen Ärschen aber nicht sagen werde. Mein Gott, die würden getrocknete Pferdescheiße essen, wenn sie dächten, sie käme aus Indien.

Er hat es vor der Welt verborgen, aber jetzt ist es so offensichtlich. Ich kann es in seiner Stimme hören, auch den Akzent. He drinks Moët & Chandon … Ich kann nicht einmal sagen, ob ich seine Musik mag. Rock ist normalerweise nicht mein Ding, aber war es überhaupt Rock? Eher wie eine Rock-Oper mit Disco-Funk, und sie hatten auch ein Album namens Jazz, das nichts mit Jazz zu tun hatte. Ich sollte ein Album namens Sitar machen.

„Sir, Sir …“

Ich bin aus dem Restaurant gegangen.

Fickt euch, ihr asiatischen Asiaten. Ich gehe ins Bellini’s.


Es war 1994, in der Nacht, als Kurt Cobain sich umbrachte. Sein Abschiedsbrief:

„Es berührt mich nicht auf die Weise, wie es Freddy Mercury berührte, der es zu genießen schien, zu lieben und die Liebe und Verehrung der Masse zu empfangen, was ich total bewundere und beneide. Tatsache ist, ich kann euch nicht täuschen, keinen von euch. Das wäre euch und mir gegenüber einfach nicht fair. Das schlimmste Verbrechen, das ich mir vorstellen kann, wäre es, die Leute abzuziehen, indem ich es fake und so tue, als hätte ich 100 % Spaß.“

Ich war fünfundzwanzig und alleine zuhause, als ich davon erfuhr. Ich fing an, Dinge aus dem Fenster oben zu werfen, Bücher, Platten, einen tragbaren Fernseher. In der Küche warf ich Eier, Milchflaschen, Porzellantassen an die Kühlschranktür. Ich schlug meinen Kopf gegen das Spülbecken, wobei ein Stück Zahn abbrach.

Als meine Mutter nach Hause kam, sagte ich ihr, ich sei zum Rauchen nach draußen gegangen, und ein paar Dorfjungen hätten das Haus gestürmt und verwüstet.

„Warum hast du nicht hinter dem Haus geraucht? Warum hast du das Haus nicht abgeschlossen?“

„Hinten gibt es Fledermäuse“, sagte ich. „Die machen mir Angst.“

Sechs Wochen später rief EMI an, aber zu dem Zeitpunkt war ich ganz offensichtlich ein Versager. Ich war wieder zuhause eingezogen, weil ich es in der Bar nicht mehr ausgehalten hatte. Ich brauchte Zeit zum Komponieren. Doch meine Mutter roch meine Schwäche und holte zum entscheidenden Schlag aus. So war sie. Sie hatte selbst Musikerin werden wollen.

Als mein Deal perfekt war, fuhr ich nach London und traf die Manager. Sie führten mich durch ihre Büros: Finanzen, Marketing, Untergeschoss. Ich verließ sie mit einem Haufen CDs in der Hand und Abschiedsgedanken im Kopf.

„Der Durchschnittskunde kann einen gewöhnlichen Studiomusiker nicht von einem Virtuosen unterscheiden. Es gibt nur eine Handvoll Leute, die wissen, wie gut du bist, eine Handvoll. Denk nur an all die mediokren Typen, die die Leute regelmäßig für Genies halten. Versteh mich nicht falsch, du bist eine große Nummer, aber die Öffentlichkeit muss es auch glauben. Und sie glauben ihren Ohren nicht, sie glauben ihren Augen.“

Der Turban kam kurz danach. Die Sandalen und der Salwar auch. Die Turbane waren meist in afghanischem Stil gehalten, aber mit Gold bestickt, einer sogar mit einer Löwenmähne. Ich habe Sariblusen und Petticoats getragen, alle Sorten von Schals und Ohrringen. Sogar einen Sarong. Als ich noch hübscher war, war ich so etwas wie ein musikalischer David Beckham: ein Virtuose mit einem Sinn für Stil. Aber ich scheine wie Beckham dem Untergang geweiht zu sein. Es heißt, er lebe jetzt in Manchester. Vielleicht sollte ich auch dorthin gehen. Mich einmauern wie der selbstsüchtige Riese.

Aber wenigstens stand Beckham für etwas.

„’Tschuldigung, Sie sind Swami Saint, oder? Ich war heute bei Ihrer Rede.“

Ich halte meinen Drink hin, damit sie hineinspucken kann. Ein Witz, den sie nicht versteht.

„Ich bin Mala.“

„Ich bin ich.“

„Ich fand es echt unfair, diesen ganzen Quatsch von wegen Authentischsein. Machen Sie einfach weiter, was Sie machen. Wie viele von denen können denn spielen wie Sie?“

Sie berührt mich am Arm. Sie hat eine Wunde am linken Bizeps: Die Wunde sieht genau aus wie das Apple-Logo. Die Leute werden einfach immer seltsamer.

„Danke dann auch“, sage ich, lustlos, kalt, und brauche eine Zigarette.

„Es war mir ein Vergnügen, Mr. Saint.“

Ich trete nach draußen und auf den Bürgersteig, wo Flecken von Straßenlicht wie Urinspritzer schimmern. Ich zünde meine Zigarette an und atme tief ein. Meine Lungen fühlen sich rot an. Von drinnen kann ich Billie hören, wie sie „Strange Fruit“ singt. Ich habe mir immer gewünscht, ich könnte singen. Das Klavier … es fühlt sich an, als sei ich darin gefangen, ein Häftling dieser farblosen Tasten. Wenn ich versuche, überragend zu sein, höre ich nur Traurigkeit. Ich habe nie draußen gespielt. Oder in den Dünen, wie im Film Shine. Das würde ich gerne tun. Das ist, was ich wirklich gerne tun würde.

Ich gehe auf die Straße. Autos wirbeln wie Songs um meine Knöchel. Irgendwo schreit ein Mann. Regen läuft mir den Nacken hinunter. Oh wouldn’t it be lovely …

Ein Mann nimmt mich bei der Hand. Er ist älter geworden, aber die Augen leuchten noch immer. „Es ist in Ordnung, mein Lieber. Komm jetzt, aus dem Regen.“


Wir sind zurück in der Bar. Er raucht. Man darf hier nicht rauchen, aber er raucht. Natürlich tut er das. Er ist Queen, die Königin.

Das kann er nicht sein.

„Wir sind älter jetzt, Liebling. Haben einen langen Weg hinter uns.“

Ich blicke ihm in die Augen. Er ist es.

„Farrokh?“

„Ja, Lieber. Verzeih, dass ich weg war.“

„Ich habe dich gebraucht, weißt du.“

„Hast du, ja hast du wirklich. Du hast vergessen, wie man Freude dran hat.“

„Ich weiß nicht, wo es schieflief.“

Seine Pergamenthaut, früher so glatt, ist faltig, doch seine Lippen sind noch immer voll, seine Finger lang und elegant, wie fürs Klavier geschaffen. Er war früher unsicher, was sein Spiel anging, aber keiner spielte so wie er. Die Perücke und der Bart sind weg, ein Dreitagebart stattdessen. Er trägt eine kurze Armyjacke mit einem weißen Einstecktuch und eine gestärkte blaue Leinenhose. Seine Schuhe sind weiß und fleckenlos. Er hat einen Spazierstock in der Hand, krumm und aus durchsichtigem Plastik. Ein schräges Gesamtbild (durchaus zueinander passend).

„Du hast eins vergessen, Lieber. Es ist nur ein Spiel. Du hast es zu ernst genommen.“

„Ich weiß, Farrokh. Es tut mir leid.“

“Hör zu.“ Er nimmt mein Kinn in die Hand und hebt mein Gesicht, bis mein Blick den seinen trifft. „Vergiss es jetzt. Vergiss es. Lass los.“

Ich versuche zu lächeln, aber Tränen hängen mir wie Kristalle in den Augen. Er zieht sein Taschentuch hervor und tupft sie ab. Ich lasse mich fallen, und er hält mich. So bleiben wir, im Raum erstarrt.

„Lass uns zum Klavier gehen“, sagt Farrokh.

„Aber du kannst es nicht sein“, sage ich. „Ich hab’s in den Zeitungen gelesen.“

Er geht bereits voraus. Sein Schritt ist mühelos, lebendig; er federt auf den Absätzen, schlägt die Zeit mit seinen Händen.

Am Klavier nimmt er meine Hände und legt sie auf die Tasten.

„Fang an.“

Ich beginne zu spielen, was, weiß ich nicht, und er singt in diesem natürlichen Bariton, der vom Tenor ins Falsett gleitet, singt in keiner Sprache, harmoniert nur mit dem Klavier. Es ist perfekt. Ich will, dass dieser Moment andauert.

Aber ich höre auf.

„Du bist tot“, sage ich.

Er will sprechen, aber er würgt an den Worten. Wie konnte ich nur so grausam sein?

„Lass uns eine rauchen“, sagt er.

Wir gehen durch die Bar auf die Straße raus. Paare starren, aber nicht uns an. Der Himmel ist rötlich, seltsam für diese nächtliche Stunde. Straßenlaternen recken den Hals.

„Schau“, sagt Farrokh. „Schau.“

Das tue ich. Zwei Polizeiwagen mit Blaulicht stehen auf der Straße. Ein Krankenwagen steht hinter ihnen. Die Autos haben angehalten. Die Straße ist gesperrt.

Das bin ich. Mein Körper liegt gespreizt auf dem Asphalt. Mein Kopf ist eingedrückt, ein einziger Schlag von einer gleichgültigen Motorhaube. Meine Beine sind jedoch unverletzt. Diese Socken waren aus Seide, ein Geschenk von Anand.

„Es tut mir leid“, sage ich.

„Lass jetzt los“, sagt Farrokh. „Genieß es.“

„Habe ich es vergeudet?“

„Natürlich nicht, mein Lieber. Du hast es bis zum Letzten ausgeschöpft.“

„Und was kommt jetzt?“

„Sieh hoch.“

Tue ich. Und ich hatte recht. Der Himmel ist ohne Sterne. Es gibt keine Struktur mehr.

„Einen letzten Drink?“

Ich nicke.

„Es ist alles eine Show“, sagt er. „Nur eine Show.“

Ich folge ihm zurück in die Bar. Diesmal stehen die Leute auf und applaudieren. Ich verbeuge mich, und Freddie zieht sich in den körnigen Schatten zurück. Das ist mein Abend.

„Meine Damen und Herren, Mr. Sanjeev Ravindran.“

8.

„Ich möchte meine Rede gerne mit etwas sehr Einfachem beginnen.

Danke.

Danke euch, danke unserer Partei, unseren Mitgliedern, unseren Unterstützern, den Leuten, die Woche für Woche ihre Arbeit machen und die teils heftige Kritik einstecken, aber nur selten die ihnen zustehende Anerkennung bekommen.

Danke euch, der Labour-Partei, die ihr mir das außergewöhnliche Privileg eingeräumt habt, euch durch die letzten zwölf Jahre zu führen.

Ich weiß, dass ich sehr viel älter aussehe.

Das ist unvermeidlich, wenn man Chef der Labour-Partei ist.“

„Scheißfaschist“, sagte Karim und schmiss eine Socke in Richtung Fernseher.

„Hau ab aus Manchester, du Kriegstreiber“, sagte Bobby.

„In keinem anderen Land könnte sowas passieren“, sagte Tahir und drückte eine Selbstgedrehte in seiner Handfläche aus.

„Das ist medialisiertes Menschengemetzel“, sagte Salil, Anhänger der Kritischen Theorie.

„Stellt ihn vor Gericht“, sagte Karim. „Bringt ihn nach Den Haag. Setzt ihn auf den Stuhl.“

„Jedes Kind, das er umgebracht hat, möge zurückkehren und ihm den Tripper geben“, sagte Bobby.

Wir waren noch nüchtern, obwohl es früh am Nachmittag war. Wir schafften es erst um sieben in den Pub.

Der Feind hatte gewonnen. Zweihundertfünfzigtausend Iraker tot, und niemand wurde bestraft.

„Die nennen uns nur noch Hasspropheten“, sagt Tahir mit einem Whiskeyrülpser.

„Die nennen uns überhaupt nicht“, sagte ich, und ein lauer Bierschwall blinzelte durch meine Logik. „Wir zählen nicht.“

„Schwachsinn“, sagte Karim. „Schwachsinn.“

„Was ist Schwachsinn.“

„Alles“, sagte Salil.

„Scheiß auf uns alle“, sagte Bobby. „Wir haben das getan.“

„Es gibt kein Wir“, sagte Salil. „Raffst du das nicht?“

„Doch“, sagte ich. „Ich raff es.“

Wollten wir wirklich den Krieg beenden?, fragte ich mich. Oder wollten wir nur den „Bliar“ an seinen „Bleiern“ aufknüpfen?

Manchmal ist Politik leidenschaftliche Hoffnungslosigkeit.

Wir waren keine Terroristen. Wir hatten nicht die -

„Volle Pulle Demokratie“, sagte Salil. „Scheitern ist ein Muss.“

„Fick dich, Salil“, sagte Bobby. „Reaktionäre Scheiße.“

„Alle raus!“, sagte Tahir. „Es geht los.“

Wir waren in einem Pub gegenüber des Palace Hotels. Dort war das Revier der Delegierten. Die Labours schwer am Abfeiern.

Wir machten uns auf die Straße, Unrat aus einer schicksalsschweren Hand.

Unsere Beute blinzelte im laternenbeleuchteten Schweigen auf der anderen Straßenseite. Elf Meter, ein Strafstoß.

„Friss meine Socke, du Faschist.“

„Hau ab aus Manchester, du Kriegstreiber.“

„Wir wollen dich hier nicht.“

„Na los, Mr. Blair. Bring mich auch um.“

„Du hast nicht die Bleier dazu, nicht, wenn wir dich sehen.“

„Schäm dich.“

„Schäm dich.“

„SCHÄM DICH.“

Der Premierminister starrte uns mit einem schamlosen Grinsen an. Meine Herren, mein Name ist Demokratie.

Ich hätte ihn tacklen können, wie beim Rugby.

Aber das machte ich nicht. Ich hatte Angst.

Als seine Limousine ankam, verschwand er in ihr.

Aber diese letzten dreißig Sekunden … da standen weiße Jungen an der Bushaltestelle. Nicht nur Jungen, Leute, Familien, sie warteten nur, mit ihren gewöhnlichen Leben, eine Stagnation zwischen Arbeit und TV. Aber auch sie fingen an zu schreien.

„SCHÄM DICH.“

„SCHÄM DICH.“

„SCHÄM DICH.“

Vielleicht gibt es keine Gerechtigkeit.

Aber Momente gibt es.

Und dies war ein Moment.

Als der „Bliar“ in der rauen Dunkelheit des Manchester-Niesels blinzelte, hatte er Angst wie wir.

Die Limousine fuhr ab. Der Fahrer war auch ein Arbeiter. Schande über ihn, aber es war nicht seine Schuld.

„Gehen Sie zurück in den Pub.“

Die Polizei war das. Drei Polizisten.

Wie lang hatte unser Moment gedauert? Eine Minute? Fünf?

Blair hatte uns angestarrt, ein leichtes, freudloses Grinsen. Er hätte uns erschießen lassen können.

In Großbritannien fängt dich alle dreißig Sekunden eine Überwachungskamera ein.

„Zurück in den Pub, sofort.“

„Warum dürfen wir nicht auf der Straße stehen?“

„Wir haben nur von unserem demokratischen Recht zu protestieren Gebrauch gemacht“, sagte ich, plötzlich wieder betrunken.

„Ja, ich weiß, gehen Sie einfach in den Pub zurück.“

„Es ist Krieg!“, schrie Karim.

Aber wir gingen wieder rein. Wir triumphierten, jedenfalls die meisten von uns. Aber ein Nebel verdüsterte meinen Geist. Eine Million war tot, und alles, was wir machen konnten, war schreien.

Unsere Drinks erwarteten uns, schäumend und bitter. Ich drehte eine Zigarette und wusch meine Lunge mit Rauch. Wie ich den drohenden Krebs liebte. Wie ich den ganzen Körper in toxischem Dreck sterben sehen wollte. Die Welt hatte schon zu lange existiert. Die Sünde hielt uns alle in ihrer Faust gefangen.

„Was?“, sagte Salil und drehte sich um mit seinem schlangendünnen Körper. „Was zur …?“

„Du va’fickter va’rückter brauner Schissabschaum.“

„Dann kommt her!“

Sechs Männer erhoben sich auf der anderen Seite. Bierige Teiggesichter, rote Adern, aufgeplatzt vom Trinken und Frustriertsein. Auch das hier war Bliars Schuld, aber jetzt war keine Zeit zum Reden.

Wir standen ihnen gegenüber. Fünf Braune gegen sechs von den anderen. Ich habe noch nie gekämpft. Aber ich wollte, dass sie mich schlagen. Weil ich den Krieg nicht aufgehalten hatte.

„Es gibt zwei Sachen, über die man in Pubs nicht redet. Religion und Politik.“

„Worüber habt ihr denn geredet?“

„Frauen. Und das würdet ihr auch tun, wärt ihr nicht so scheiß …“

„Schämt euch.“

„Küss meine Socke, du Blairsucker.“

Sie warfen uns raus, der Hausherr und diese Männer. (Es war eine Rockerbar, erfuhr ich später: Offenbar mögen solche Männer das Austragen von Meinungsverschiedenheiten nicht.)

Wir gingen danach zurück zu mir. Kauften Whiskey und Brandy, je eine Flasche. Aber selbst das ging nicht ohne Zwischenfall über die Bühne. Der Abend stand unter einem schlechten Stern, obwohl die Wolken den Himmel mit ihren fettigen Manchesterfingern geschwärzt hatten. Die Stadt war nie schön. Selbst der Regen schmeckte nach hartem, ehrlichem Schmerz.

„Sorry, Leute, aber ihr habt alle Glaubwürdigkeit verloren.“

„Was redest du denn da, verdammt?“, sagte Karim.

„Ich sag’s euch klar und offen“, sagte Jim der Weiße, dem das Spirituosengeschäft gehörte. „Ihr wart in einem Pub, nicht wahr? Dann seid ihr aus dem Pub gegangen und habt Blair angeschrien. Habe ich recht?“

„Das ist korrekt“, sagte Salil staatsmännisch.

„Und wie nennt ihr sowas?“, sagte Jim der Weiße und strich über seinen langen, orangenen Bart.

„Gerechtigkeit.“

„Wahrheit.“

„Eine gute Zeit, Mann.“

„Falsch, die Herren“, sagte Jim der Weiße und händigte mir einen Famous Grouse aus. „Ich nenne es Heuchelei.“

„Was soll das denn“, sagte Tahir.

„Ja“, sagte ich und lachte. „Du besitzt einen scheiß Schnapsladen, Jimmy.“

„Fluch nicht“, sagte Jim. „Das ist haram.“

„Welcher Schwachkopf wird heutzutage denn noch Muslim?“

„Ich bin Wahhabit“, sagte Jim. „Eines Tages wird ganz England uns folgen.“

„Du lebst vom Alkoholverkauf, du -“

„Fluch nicht“, sagte Jim. „Nur weil ich weiß bin, bin ich nicht auch dumm.“

Er sagte den letzten Teil auf Urdu.

„Fick dich, Jim“, sagte ich.

„Walaikum salaam“, sagte Jim. „Basmala.“

„Kommt, wir lassen uns volllaufen.“

Zwanzig Minuten später standen wir auf der College Road, außerhalb eines seltsamen, gotisch aussehenden Unterschlupfs. Das ist das Letzte, woran ich mich von dieser Nacht erinnere.


Als ich am nächsten Morgen erwachte, parkte genau da, wo mein Hirn hätte sein müssen, ein Liter Whiskey. Und da war eine Katze in meiner Wohnung, die durch das Küchenfenster geschlüpft war und dabei einen Laut wie eine ausgewachsene, dysfunktionale Frau gemacht hatte. Fünfzehn Minuten lang habe ich versucht, sie zu fangen, ließ sie mit ihren Krallen puren Alkohol aus meinen Adern abzapfen. Als ich sie endlich draußen hatte, hob ich meine Post auf und machte zwei Tassen Kaffee, eine für mich und eine für meinen Kater. Es war der Geburtstag meines Vaters. Um Mittag müsste ich in London sein.

Ich übergab mich zweimal. Ein alter Manchesterbrauch in Zeiten des Notstands.


Mein Vater war Träger eines Offizierskreuzes für seine Verdienste bei der britischen Industrie. Er schrieb gelegentlich eine Kolumne für die Financial Times. Papa war siebzig Jahre alt, trug eine Fliege und sprach laut über Arundhati Roy. „So eitel wie eine Kosmetikerin!“, sagte er und schlug meinem Schwager hart auf den Rücken. Meine Schwester lächelte und sah verängstigt aus. Ich hatte mein Gras in Manchester vergessen. Meinen Eltern gegenüber also unbewaffnet, trank ich Champagner und versuchte, witzig zu sein - der Clown, der Gestrauchelte, derjenige, der es am Ende doch noch schaffen würde, wenn er endlich lernte, „worum es beim Erwachsenwerden geht“ (mein Schwager sagte das zu mir, während er mir sein iPad zeigte).

Meine Mutter beschrieb Blairs Abschied als „bewegend“. Sie war eine pensionierte Kronanwältin, die Fundraising-Dinners ausrichtete, aber manchmal sahen sie alle gleich aus, in meiner Familie. Ich hatte eine Flasche Champagner intus, und der Whiskey der letzten Nacht explodierte noch immer in meinem Schädel. Ich erzählte ihnen, was passiert war, und habe vielleicht auch einen kleinen Tanzschritt am Ende ausgeführt, aus keinem anderen Grund, als sie davon zu überzeugen, dass ich in der Tat ziemlich verrückt war und man mich nicht ernst nehmen musste. Aber zum Henker, sie nehmen mich immer ernst.

„Also sagte uns Jimmy der Weiße, wir seien Heuchler“, sagte ich. „Und im selben Atemzug verkaufte er uns Alkohol.“

„Ihr seid keine Heuchler“, sagte mein Vater. „Ihr seid Idioten.“

„Sie sind bloß unreif“, sagte mein Schwager. „Das ist alles. Ihr wart noch nicht lange genug im System.“

„Er will nicht im System sein“, sagte meine Schwester. „Das ist es ja.“

„Warum hast du den Premierminister angeschrien?“, sagte Papa. „Warum hast du Whiskey gekauft? Warum trinkst du Champagner?“

„Wird sich alles ändern, sobald er was verdient“, sagte mein Schwager.

„Er verdient doch“, sagte meine Mutter.

„Aber nicht sehr viel“, sagte meine Schwester.

„Und was er verdient, gibt er für Drogen aus.“

„Oder Whiskey.“

„Er glaubt, es sei edel, arm zu sein.“

„Er macht nicht einmal mehr seine ‘Musik’.“

„Ich danke Gott, dass er nicht verhaftet wurde.“

„Hätte auch in den Zeitungen stehen können.“

„Ich könnte mir selbst nicht mehr ins Gesicht schauen.“

„Wir kennen die Blairs, Herrgottnochmal.“

Meine Eltern hatten die Blairs tatsächlich einmal getroffen, bei einem Fundraising-Dinner, aber es waren Cherie und ihr Sohn Euan gewesen.

„Und was ist mit Charles?“, sagte mein Schwager und meinte Saatchi damit. „Der hätte sicher eine Menge dazu zu sagen.“

Er lehnte sich mit diesem „Schick mir Deinen Lebenslauf, und wir kriegen das schon hin“-Gesicht in meine Richtung.

„Ich hoffe, du verstehst“, sagte mein Vater, „dass du dadurch vorbestraft sein könntest.“

„Ja“, sagte mein Schwager. „Was, wenn du eines Tages ein Büro leiten willst?“

„Ich kriege das hin“, sagte mein Vater. „Ich rufe Anthony an.“

Ich hatte keine Ahnung, wer Anthony war, bis ich drei Monate später einen Brief erhielt.


Lieber Mr. G.,

Ihr Vater, Chandrakant G., war so freundlich, mir zu schreiben und Ihren Anteil an dem Aufruhr zu schildern, welcher der Rede des Premierministers in Manchester folgte. Er hat mich über Ihre durchaus eindrucksvollen Referenzen in Kenntnis gesetzt, und nun ist es mir, nach einer kurzen Konsultation beim Premierminister, ein Vergnügen, Sie zu einem informellen Umtrunk mit einer ausgewählten Gruppe von Prominenten und Journalisten in der Downing Street 10 einzuladen. Der Premierminister wäre erfreut, Ihr Anliegen bei dieser Gelegenheit persönlich mit Ihnen zu besprechen, und hat mich beauftragt, Ihnen auszurichten, dass Ihre Meinungen über Politik für ihn von Belang sind.

Beigefügt finden Sie die Einladung. Mit den besten Wünschen sprechen wir unsere aufrichtige Hoffnung aus, dass Sie teilnehmen werden.

Mit besten Grüßen,

Ihr

Anthony Carmichael (CBE)

Privatsekretär des Premierministers


Ich zerknüllte das Papier zu einer kleinen Kugel und hätte sie auch gegessen, wenn mir nicht eh zum Kotzen gewesen wäre (es hatte wieder eine Whiskeynacht gegeben). Aber als ich den anderen davon erzählte, spottete keiner von ihnen. Stattdessen warfen sie mir diesen Blick zu - als wenn sie mich gleich verzehren und meine Knochen der Partei vermachen würden.

„Das ist eine Gelegenheit“, sagte Karim.

„Eine gottgesandte“, sagte Salil.

„Du musst dahin“, sagte Maninder. „Geh einfach hin, geh hin, geh hin …“

Und so stand ich an einem Januarabend im Jahr 2007 vor der Downing Street 10 im Regen und trug eine Anzugjacke, ein schwarzes Seidenhemd und hautenge Jeans.

Sie tasteten mich ab, aber so schnell, dass es einer dezenten, formellen Umarmung glich. Ich war pünktlich, was, im Hause des Premierministers, einer Verspätung gleichkam. Ich erkannte mehrere Gesichter, Trevor McDonald, Billie Piper, Dawn French, Gurinder Chadha und dort hinten, in einer Nehrujacke aus Wolle, mit seiner berühmten runden Brille und den abgeschrägten Fingerspitzen: Eric Clapton. Als er sah, wie ich ihn anstarrte, schenkte er mir ein mildes, mattes Lächeln, und ich - warum, weiß ich nicht - zeigte ihm das Peace-Zeichen. Er drehte mir den Rücken zu, und ich wäre gerade fast wieder gegangen, hätte mich nicht eine Hand am Ellbogen gepackt:

„Mr. G. Ich bin Anthony Carmichael. Wir haben korrespondiert. Wie schön, Sie kennenzulernen.“

„Hinreißend“, sagte ich und führte unbewusst eine transsilvanische Halbverbeugung aus. „Wie gut, dass Sie gekommen sind.“

„Nun, ich neige nicht dazu, meine Verpflichtungen zu vernachlässigen“, sagte er lächelnd.

„Absolut“, sagte ich und erkannte meinen Akzent nicht. „Wie gut, Sie kennenzulernen, meine ich.“

„Ganz meinerseits. Wie steht es so im guten, alten Manchester?“

„Oh, Manchester geht es gut“, antwortete ich. „Ein ziemlich zähes, altes Mädchen.“

„Hervorragend. Schauen Sie, ich will nicht mit der Tür ins Haus fallen, aber könnten Sie für eine Sekunde mit mir kommen.“

Er führte mich in eine Nische. Einen Moment lang dachte ich, er hätte ein Messer, aber es war ein Silberetui mit Visitenkarten.

„Rufen Sie bei Gelegenheit diese Nummer ab, ja? Es ist so, wir haben Sie in Augenschein genommen, wie wir es nennen, und wir mögen, was wir sehen.“

Wollten Tony und Tony etwa Sex mit mir?

„Ich meine, wir haben Sie durchgecheckt, und ihre Akten sind wirklich herausragend. Worcester Gymnasium, Oxfordbester, der Economist …“

„Nur für ein paar Monate“, sagte ich. „Ich habe gekündigt.“

„Ja, schon“, fuhr er fort. „Aber Sie haben weitergeschrieben, nicht wahr, für diese E-Zines, und andere. Sie sind ein talentierter Analytiker. Das Finanzministerium geht mit Ihrer Voraussage einer Korrektur in 2008 völlig überein …“

„Ein Crash“, sagte ich, wieder voller Selbstvertrauen. „Eine Kapitalkrise.“

„Nun ja, genau. Und nicht nur Ihre Wirtschaftsanalysen … Ihre Gesellschaftskommentare liegen genau richtig und treffen den sprichwörtlichen Nagel auf den Kopf. Sie sind, wenn ich so sagen darf, die Stimme der asiatischen Wählerschaft von heute. Sie verstehen ihre Sorgen. Sie bringen ihre Mühen auf den Punkt.“

„Ich war in Oxford“, sagte ich. „Da bin ich wohl kaum repräsentativ.“

„Aber Sie sind dort gewesen, weil Sie intelligent sind. Darum geht’s doch?!“

„Eigentlich“, sagte ich in der Hoffnung, Eric könnte mich hören, „war die Gitarre meine erste Liebe.“

„Wie auch immer, Folgendes will ich Ihnen sagen …“

Mr. Anthony Carmichael (CBE) bot mir eine Stellung in einem „unabhängigen Thinktank der Regierung“ an, mit einem Anfangsgehalt von sechzigtausend Pfund.

„Ich muss drüber nachdenken“, sagte ich.

Die nächste Stunde verging wie unter Narkose. Am Ende sprach ich mit Clapton, der mir sagte, dass „Tony ein Scheißgitarrist“ sei, und sich über das Verbot der Fuchsjagd beschwerte, bevor er früh aufbrach. Ich erinnere mich nicht mehr, was danach passierte, außer dass um Punkt acht der Premierminister den Saal betrat und die Arena applaudierend auf die Knie fiel.

Hände wurden geschüttelt, Lächeln gelächelt, und er schwebte mit diesem Gesicht durch den Raum, das tausend Marschflugkörper auf den Weg gebracht hatte. Im Moment, wo er an mir vorbeiging, knöpfte ich mein Versace-Hemd auf, stellt mich ihm in den Weg und sagte, vielleicht ein wenig zu leise, „Schäm dich“. Er sah mich und für einen Sekundenbruchteil auch mein T-Shirt an, das ein Bild von Blair mit Teufelshörnern und dem Spruch WELTTERRORIST NUMMER 2 zeigte, ging dann weiter.

Ich knöpfte mein Hemd zu und verschwand.


Vier Tage später rief Karim an.

„Schau’s dir besser selbst an“, sagte er und legte auf.

Ich ging zum Zeitungshändler. Es war auf Seite 4.

JUNGER MANN ENTSCHULDIGT SICH BEIM PREMIERMINISTER - „ICH WAR FEHLGELEITET.“

In fünfhundert Worten aus Prosa, die einen mit den Zähnen knirschen ließ, erfuhr ich, dass ich einer der „Manchester Five“ gewesen war, die den Premierminister mit vulgärer und aggressiver Wortwahl attackiert hatten, „zum großen Schrecken der ansässigen Familien und Passanten, die offensichtlich von dem Vorfall geradezu erschüttert waren.“

„’Das F-Wort wurde mehrere Male benutzt’, sagte Augenzeugin Clare Butcher. ‚Genauso sexuell diskriminierende Begriffe wie ,Schwuchtel’ und ,Homo’. Ich war mit meiner Tochter dort, und diese Männer hatten offensichtlich getrunken. Die meisten Bewohner von Manchester sind nicht wie sie. Die meisten respektieren das Recht gewählter Staatsvertreter, sich auf der Straße aufzuhalten wie jeder andere auch. Aber es gibt immer ein paar, die es auf Kosten der anderen versauen.’“

„Mr. G.“, ging es im Text weiter, „wurde auf persönliche Rechnung des Premierministers in die Hauptstadt eskortiert, um ihm seinen Fall ‚so, wie es sich für einen freien Bürger geziemt’ darzulegen. ‘Sie sprachen einige Minuten lang miteinander’, sagte Anthony Carmichael, ein Referent von Mr. Blair, ‘und der junge Mann war von der Erfahrung recht erbaut. Ich war fehlgeleitet, sagte er später zu mir, und auf die Frage, ob er aus der Erfahrung gelernt habe, antwortete er, ja, absolut“.


Die nächsten Monate verbrachte ich in meiner Wohnung, schaute viel fern, spielte Gitarre und rauchte Gras. Eines Tages hämmerten Karim und Salil gegen meine Tür.

„Wir wissen, dass du da drin bist. Mach auf. Es ist okay. ICH WAR FEHLGELEITET.“

Ich setzte meinen Kopfhörer auf und kauerte mit einer Bettdecke über dem Kopf am Boden, bis sie gingen. So blieb ich die ganze Nacht sitzen, selbst als die Katze kam und hinter den Kühlschrank pisste. In der nächsten Woche gab ich meine Wohnung für immer auf und zog nach London, fuhr Taxi und wohnte in Dalston, wie ich es nach Ende meines Studiums schon gemacht hatte. Ich verharrte im eigenen Mief, sprach nicht mit den Fahrgästen, selbst wenn sie mich beschimpften oder sich zu übergeben drohten. Aber ein Blick in meine Augen, und sie verstummten. Meine Iris war rot. Ich sah ein wenig wie der Teufel aus.

Wenn ich auch nur ein Foto dieses Tory-schleimenden, gitarrenschwingenden, aufmerksamkeitsheischenden, massenmordenden Fundamentalisten sah, fing meine Nase an zu bluten. Ich duschte oft kalt und gab den Alkohol auf. Nichts half.

Anfang September parkte ich nachts um zwei draußen vor einem Nachtclub in Islington. „The Bluebird“ hieß er, glaube ich. Ich hörte, das Gesicht aufs Lenkrad gesenkt, Radio 3, doch dann hörte ich zwei Worte, klar und deutlich wie Triller im Vogelgesang.

„Yo, Blair!“

Mein Kopf schnappte hoch. Da waren sie, auf meiner Straßenseite, zwei geschmeidige, lohfarbene Jungen in tiefsitzenden Designerjeans. Einer hatte ein Mobiltelefon von der Größe eines Ziegelsteins.

„Yo, Blair“, intonierte er noch einmal und warf das Telefon über die Straße.

Ich schaute zu, wie es in hohem Bogen auf einen Jungen zuflog, der auf der anderen Straßenseite unter einer Laterne stand, mit offener Hose und strahlenden Shorts. Er stolperte, als er nach vorne springen wollte. Das Telefon splitterte gegen den Laternenpfahl.

„Du bist so ein Spasti, Euan!“

Der Junge rappelte sich wieder auf, und ich hatte freie Sicht auf sein Gesicht. Pubertätsflaum auf der Oberlippe, zwei Ohrringe, helle Strähnchen oben auf der mausgrauen Mähne. Das Telefon lag in zwei Stücke zerbrochen neben ihm. Er steckte sie in seine Jacke, bevor er sich wieder umdrehte und gegen die Wand pinkelte.

„Hey“, sagte der andere Junge. „Ey! Taxi!“

Ich dankte Gott für seine Barmherzigkeit, seine Fürsorge, seinen Sinn für Timing, seinen Humor und vollführte einen U-Turn, bevor ich vor dem Sohn des Premierministers hielt, der seinen Reißverschluss gerade hochzog.

Ich kurbelte das Fenster runter.

„Steig ein“, sagte ich mit einem luziferischen Grinsen.

Betrunken und mit Augen, die in eine dunklere Welt starrten, öffnete er die Hintertür und glitt hinein. Ich gab Gas.

„Was zum Teufel?“

„Sei leise“, sagte ich und dachte an Robert De Niro, und an der nächsten Ampel nahm ich den Gang heraus, lehnte mich zu ihm nach hinten und gab ihm die Whiskeyflasche, die ich im Handschuhfach für Notfälle aufbewahrte.

„Entspann dich,“, sagte ich. „Wir gehen auf eine Party.“

Ich fuhr eine Weile, spielte Sade, während er trank und mich nach Details ausquetschte. „Wo ist denn diese Party? Gibt es da Drogen?“ Er war schon der Ohnmacht nahe, und als wir die M6 erreichten, war er fast bewusstlos. Ich war so beschwingt wie eine Clusterbombe über Bagdad.

Ich fuhr rechts ran, um ihm Hände und Füße mit Öllappen zu fesseln und das Sweatshirt über den Kopf zu stülpen. Er murmelte, aber mehr auch nicht.

Ich fuhr die ganze Nacht, über die Grenze und weiter bis nach Edinburgh, wo die Sonne wieder aufging, dünn und trocken. Ich war seit Jahren nicht mehr hier unten gewesen, doch ich erinnerte mich noch immer an das Haus. Es stand einsam auf einem Hügel, einst der Hof von Kleinbauern, jetzt ein Landhaus von Yuppies, das für einen zweiwöchigen Urlaub benutzt wurde und den Rest der Zeit leerstand. Der Schlüssel lag unter der Fußmatte, und Euan schnarchte noch immer auf dem Rücksitz. Ich schleppte ihn nach drinnen, und er murmelte „Danke, Kumpel“, bis er mir, als die Flurlichter angingen, direkt in die Augen starrte und fragte:

„Ist hier die Party?“

„Du hast sie verpasst“, sagte ich ihm. „Wir schlafen jetzt hier.“

„Ernsthaft, Bruder“, sagte er. „Ich bin dir sehr dankbar. Ich muss gleich unbedingt wichsen.“

Ich half ihm die Treppen hoch und ins Bett, gab ihm einen großen Brandy, den er exte. Aus der Gartenlaube nahm ich zwölf Meter Schnur mit und band ihn eine Stunde später sicher an der Matratze fest.

Ich lag bis zur Dämmerung auf dem Boden. Ich weiß nicht, ob ich schlief.


Um elf ging ich nach oben, trug dabei eine Skimaske und schlug mit einem Skistock in meine leere Handfläche.

„Du bist entführt worden“, sagte ich.

Ich hoffte, angsteinflößend auszusehen und nicht wie Eddie the Eagle.

„Was? Warum?“

„FRAG NICHT SO DOOF“, sagte ich und nahm dabei ohne vernünftigen Grund einen nahöstlichen Akzent an. „Du weißt warum, du kleiner Mistkerl.“

„Tue ich nicht. Ich schwöre, ich weiß es nicht. Es sei denn … schau, Bruder, echt, es war nicht meine Schuld. Das war ich nicht …“

„Halt’s Maul“, sagte ich. „Halt einfach dein Maul.“

Ich überlegte, ihn zu schlagen, aber er sah zu zerbrechlich aus. Ich erinnerte mich, dass er nach einer „Auktionsschlacht“ der Ivy-League-Universitäten ein 50.000-Dollar-Stipendium für Yale erhalten hatte. Ein Stipendium für den Sohn eines Millionärs.

„Es geht um deinen Scheißvater“, sagte ich.

„Was ist mit ihm“, sagte Euan, ganz mürrischer Teenager.

„Er ist ein Verbrecher“, sagte ich. „Er muss zahlen.“

Er hob den Kopf so hoch er konnte, plötzlich hoffnungsvoll.

„Ich weiß“, sagte er. „Mein Vater ist eine Fotze. Ich hasse ihn.“

„Schwachsinn“, sagte ich.

„Nein, wirklich. Er ist ein Wichser. Ich hasse ihn so sehr wie du.“

„Das bezweifle ich sehr.“

„Doch, doch. Hör mal, ich weiß nicht, was er dir angetan hat, aber, gottverdammt, als ich sieben war, hat er mich gezwungen, eine Packung Zigaretten zu essen.“

„Weil er dich beim Rauchen erwischt hatte?“

„Weil ich in Geografie durchgefallen war.“

„Was hat das mit Rauchen zu tun?“

„Weiß ich doch nicht! Er ist verrückt.“

„Ja, er ist nun einmal ein Verbrecher.“

Ist er. Ist er, scheiße. Er sollte ins Gefängnis.“

„Hör zu“, sagte ich, stand da und versuchte, meine Zigaretten zu finden. „Halt einfach den Mund, okay. Du verwirrst mich.“

„Er glaubt, ich bin dumm“, fuhr Euan fort. „Er glaubt, nur weil er so wichtig ist, muss ich ein Idiot sein. Schwafelt ständig, wie faul und unverantwortlich und nutzlos und ignorant ich bin, als ob nichts, was ich tue, ihm je gerecht wird, weil er ein verfickter Gott ist, und ich bin ein Drecksack. Kannst du dir vorstellen, wie sich das anfühlt?“

„Und ob“, sagte ich. „Kann ich.“


Zwei Stunden lang redeten Euan und ich dann über unsere Väter, die ständige Kritik, die Demütigungen, das „Nichts ist je gut genug“ und das „Wann wirst du erwachsen“, was eigentlich hieß: „Wann machst du endlich, was ich dir sage.“

„Und die Antwort lautet nie, denn ich werde mich nie geschlagen geben.“

„Jawohl, ich bin nicht du, Papa.“

„Und vergleich mich nicht mit dir, denn wir haben zwei scheißverschiedene Leben.“

„Ich muss deine Arbeit nicht fortsetzen.“

„Bei allem, was ich tue, GEHT ES NICHT UM DICH.“

„Lass mich einfach IN RUHE.“

„Ja, fick dich, Papa, fick dich.“

So ging es immer weiter. Wir teilten uns sogar einen Joint. Als Euan sich auf der Toilette übergab, massierte ich seinen Nacken. Wir gingen runter und redeten über Strategien, feist wie Kriegsverbrecher.

„Hier“, sagte Euan und zeigte auf den Sessel am Fenster. „Das Licht ist hier besser.“

„Zu gemütlich“, sagte ich. „Das wird aussehen, als wärst du im Urlaub.“

„Wird es nicht“, sagte Euan, und bevor ich etwas sagen konnte, hob er den Schürhaken auf und schlug ihn sich gegen die Stirn.

Sein blaues Blut floss ungehindert sein Gesicht herab, ein blauer Fleck blühte auf wie eine Nelke. Der Junge hatte es schlimmer als ich.

„So“, sagte Euan, „lass es uns jetzt machen.“

Ich machte die Kamera an.

„Stell dich da hin“, sagte er mir. „Genau da, ja. So, dass du die Wand hinter mir drauf bekommst.“

„Okay“, sagte ich.

„Papa“, fing er an. „Papa, ich habe Angst … sie haben mich, diese … Unmenschen. Sie sagen, es ist alles deine Schuld. Dass du dich entschuldigen musst. Ich hab versucht, es ihnen zu erklären. Habe versucht, ihnen klarzumachen, dass du nichts damit zu tun hast, aber sie hören nicht auf mich. Sie werden mir den …“, schluchz schluchz schluchz, „den Daumen abschneiden, und dann die Finger, einen jeden Tag, den du sie warten lässt. Es tut mir leid, Papa. Ich habe dich enttäuscht. Ich enttäusche dich immer wieder. Sie sagen, du musst ins Fernsehen gehen und dich entschuldigen. Es tut mir leid, Papa …“

Ich stellte die Kamera aus. Das Lügen lag in der Familie, und dieser Junge war brillant darin.

Wir schüttelten einander die Hände, steckten uns Zigaretten an und starrten aus dem Fenster ins schottische Winterlicht.


Eine Stunde später versendeten wir die Aufnahme von einer Tankstelle jenseits der Fernstraße. Ich adressierte das Paket an Anthony Carmichael und gab es als Expresssendung auf.

Als wir zurückkehrten, machte Euan das Kaminfeuer an und bereitete mit Gemüse aus dem Garten Abendessen zu. Ich öffnete eine Flasche Chablis, und wir tranken, wie Liebende, auf das Wohl des anderen. Nach dem Essen saßen wir in den Sesseln und zankten uns, welchen Film wir sehen sollten. In meiner Heiterkeit bewarf ich ihn mit einem Stück Kohle, was ihn verfehlte und an der Wand hinter ihm explodierte. Und dann fiel es mir auf.

„Du Bastard“, sagte ich.

„Was?“

„Du Bastard.“

„Was, wieso denn?“

„Wie konntest du nur, Euan?“

„Um Gottes willen, wie konnte ich was?“

„Wir konntest du mich nur so übers Ohr hauen?“

„Wovon redest du?“

„Der Sessel am Fenster, der ganze Quatsch mit ‘dem Licht’.“

Euan Blair hatte sich vor einer Postkarte positioniert, die an die Wand hinter ihm gepinnt war. „Besucht uns in Iowa! Herzlich, Catherine and Edmund.“ Und dann die Adresse. Die Adresse des Hauses.

MI5 würden am Morgen schon unterwegs sein, falls das Paket mit der letzten Postladung mitgegangen war.

„Fick dich, Euan“, sagte ich und hob den Schürhaken auf.

„Beruhig dich, Mann. Bitte. Ich habe keinen Schimmer, wovon du redest.“

„Du bist es nicht wert“, sagte ich ihm. „Du und dein Vater, ihr seid wertloser, lügender Abschaum.“

„Alter, nein, du täuschst dich da völlig.“

Ich warf den Schürhaken ins Feuer. Scheiß drauf, dachte ich. Er ist es echt nicht wert.

Ich verließ die Hütte, ohne mich noch einmal umzuschauen.

In Glasgow räumte ich mein Konto leer und nahm eine Bahn zum Flughafen, den Wagen ließ ich auf einem Parkplatz zurück. Ich bezahlte meinen Flug in bar. Ich bezahle ab nun alles bar.

Wahrscheinlich bin ich paranoid. Die Polizei wird die Suche inzwischen eingestellt haben, oder, noch wahrscheinlicher, sie hat nie nach mir gesucht.


Vor ein paar Jahren war ich im Internet und habe entdeckt, dass Euan Blair dem Jungen, den ich vor vier Jahren in dieser Hütte gefangen hielt, bemerkenswert unähnlich sieht. Und zur Zeit der Entführung war er in Yale und gab das Geld der Steuerzahler aus.

Ich habe noch immer keine Ahnung, wen ich eigentlich in mein Taxi gestopft habe. Mein Verdacht ist, dass es ein betrunkener Teenager war, dessen Name zufällig Euan lautete. Vielleicht war sein Spitzname Blair. Es würde Sinn ergeben. Euan Blair war so etwas wie ein Gymnasialheld, nachdem er wegen „Trunkenheit und Hilflosigkeit“ im West End festgenommen worden war.

Aber das alles war damals von keinerlei Bedeutung. Das Wichtige für mich, für mein Denken war, dass ich auf der Flucht war. Das Wichtige war, dass ich abgehauen bin.


Wenn man wollte, könnte man wahrscheinlich herausfinden, wo ich mich aufhalte, aber mal ehrlich, wer interessiert sich schon für einen Typen, der in einem Dorf am Arsch der Welt wohnt, wo er den Ziegen etwas vorsingt und selten weiß, welcher Wochentag es ist? Ich störe hier keinen, schreie überhaupt selten, außer über alberne, triviale Sachen, die ich eine Stunde später wieder vergessen habe. Ich bin, schätze ich, ein Mann ohne Ehrgeiz, ohne wirkliche Erfolge, die seinen Namen schmücken könnten, und ohne das Verlangen, die Welt zu ändern. Mein altes Leben fühlt sich wie ein Traum an, und weil diese Geschichte nun auserzählt ist, habe ich nichts weiter zu sagen als „Danke“.

Danke, Mr. Blair.

9.

„Also willst du mir sagen“, sagt Clive, zurück vom Scheißhaus, „dass du sie ficken würdest?“

„Klar würd ich das.“

„Verdammte Scheiße, Vish.“

„Nicht aus Spaß, du Idiot.“

„Und du hast sie fast so weit?“, sagt Clive.

Ich kann seinen Neid spüren.

„So weit, dass ich es riechen kann.“

„Und wie riecht es?“

Ich tue so, als würde ich meinen Finger in meinen Arsch stecken, und halte ihn vor seine Nase.

Vishal“, sagt Clive. „Du hast sie nicht einmal getroffen.“

„Ich treffe mich in zwei Wochen mit ihr.“

Ich trinke meinen Pint auf ex.

„Verdammtnochmal“, sagt Clive wieder. „Und sie glaubt dir jedes Wort?“

„Jedes Wort.“

„Nicht schlecht“, sagt Clive und spielt mein Genie um den Faktor von einer Million herunter. „Wie dumm ist die denn?“

Ich nicke. Aber es war nicht Dummheit, die die Sache ins Rollen brachte; es war Einsamkeit. Das ist meine Kunst: Ich kann die tiefen Sehnsüchte der Leute ergründen, ihre Schwächen, und ich werde zu dem, was sie wollen.

Ich bin Journalist. Du wirst die Zeitung, für die ich schreibe, kennen, und du wirst wahrscheinlich deine grunzende, herablassende Meinung über sowohl sie als auch mich haben. Aber eins will ich sagen: Ich bin die einzige Person in meiner Familie, die ihren Namen je gedruckt sieht, und ich bin der einzige Asiate in unserem Team (und wir hatten zwei Personalkrisen in drei Jahren). Sie respektieren mich, weil ich das Unmögliche möglich mache. Deswegen starrt Clive mich auf diese sabbernde, halbgeile Art an, deswegen steht er jetzt an der Bar, obwohl es nicht einmal seine Runde ist. Er zahlt Tribut. Wenn man ihn drängen würde, würde er wahrscheinlich sagen, dass er ich sein will. Ich bin derjenige, der Harrys Hausboot hat hochgehen lassen, ich bin der, der sich in Beckhams Handy gehackt hat. So gut bin ich.

Ich werde ihren Namen nicht verraten, den Namen der Frau, über die wir gerade geredet haben, noch nicht. Sie denkt jedenfalls, dass ich Arzt bin (um Gottes willen), und wenn alles glattläuft, bekomme ich eine Titelseite, und was für eine schöne. Ich habe einen Monat gebraucht, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Ich habe etwa hundert meiner „intimen Geheimnisse“ mit ihr geteilt, die Ausbeute von Stunden über dem Notizblock, wo ich die „Geheimnisse“ gepflegt und verfeinert habe. Ich sagte ihr, ich sei Witwer in Trauer, sagte ihr, ich würde meine Frau noch immer lieben, worauf sie wie aufs Stichwort antwortete: „Ich liebe meinen Mann noch immer.“

Gut, sie hat es nicht gesagt. Sie hat es geschrieben.

Das war der Hinweis, für den wir gezahlt hatten; dass sie gerne in Chatrooms „abhängt“, dass sie dorthin geht, weil sie einen „Gentleman“ treffen möchte.

Stattdessen traf sie mich.

Das ganze Business hängt von solchen Tipps ab. So habe ich Harry drangekriegt. Ein gewisser Hugh Mainwaring, schmieriger, kleiner Scheißkerl, schrieb mir eine SMS, in der stand, dass es ein Köder war, der das Hausboot verlassen hatte. Also wankte ich mit einem nobelfotzigen Akzent hinein und behauptete, Dodis Bruder zu sein.

Jeder hat einen Freund, der ihn am Ende verkauft, auch die Dame, um die es hier geht. Und schaut, wie weit ich bereits bin …

Wir hatten jetzt dreimal Cybersex, was ich schon mit anderen Frauen gemacht habe (ich hoffe wenigstens, dass es Frauen waren), aber sie war die Seltsamste: kokett, widerwillig, prüde und nuttig zugleich. Bisweilen erregte sie mich, machte Dirty Talk und verhielt sich dann wie eine Fotze, sagte: „Und jetzt nehme ich mein falsches Bein ab“, oder „Jetzt ziehe ich das Hörgerät aus“. Das machte mich so wütend, dass ich ihr einmal sagte, sie solle sich verpissen, doch sie lenkte ein und blieb dran. Letztendlich zahlte sich sogar das aus: ein Hauch von Plausibilität.

Clive ist mit den Pints zurück von der Bar. Ich muss morgen früh aufstehen, also werde ich nicht allzuviel trinken. Hab eine Verabredung in Amors Chatbox.

Morgen ist der große Tag, in mehr als einer Hinsicht.

„Und wo ist sie jetzt?“, fragt Clive und starrt auf körperlose Titten, die hin und her durch den Raum hüpfen.

„Thailand“, sage ich.

„Also kommt sie auf keinen Fall.“

„Sie kann nicht. Sie war nicht eingeladen.“

„Arme Schlampe“, sagt Clive, aber ich mag solches Reden nicht.

„Hat’s verdient“, sage ich. „Alberne Schlampe.“

„Ja, gut …“

Clive kann mich nicht toppen, er ist einfach nicht gut genug, zu plötzlich ist ihm ein Gewissen gewachsen, und er versucht, mich anzustecken.

„Bis dann, Clive.“

„Was? Vish, was machst du?“

„Halte es nicht aus, herumzustehen und mit Losern zu reden. Hab was vorzubereiten.“

„Ja, aber dein Bier.“

„Gute Nacht, Clive.“

„Ja, dir auch. Viel Erfolg bei der Sache, Vish. Okay?“

„Ja …“

Ich lasse ihn an der Bar sitzen und denke Pakiwichser. Da wird er nun noch eine weitere Stunde stehen und mit Titten reden, die nicht in die Nähe seiner Fresse kommen wollen, und dann wird er nach Soho gehen. Clive leidet an Ennui und anderen sexuell nicht übertragbaren Krankheiten. Er begreift nicht, dass man, wenn man im Leben etwas erreichen will, die ganze Zeit dranbleiben muss. Man muss es leben. Clive meint, es sei ein Job. Er wird mit einem Kater und einem klebrigen Taschentuch im Bett liegen, während ich die Rote Löwin cybermelke. Das ist die dann doch recht fette Linie zwischen Großartigkeit und Mittelmaß.


Amors Chatbox, 29. April 2011, 10:48 morgens

Raumbesitzer: the_watchman, earth_mistress, shantaram22.

Lotsen: natural_beauty, standing_oder.

Hilfslotsen: dark_city.

Operators: Curfew1974, deirdre_now, 220maximum, cambridge_love3.

Regeln für den Raum:

1. Keine Privatnachrichten ohne Erlaubnis im Hauptraum.

2. Respektiert die anderen Chatter und die Lotsen.

Bei Anliegen und Beschwerden wendet ihr euch bitte mit einer Email an das Raummanagement unter dieser Adresse: thehealerconcerns@yahoo.com. Alle benutzten Emailadressen und euer Name werden vertraulich behandelt.

Klickt hier für den Stream.

king_pin58: Hey Red. Noch immer heiß, da in den Tropen?

red_lioness: Sorry King, bin heute nicht in Stimmung.

king_pin58: Oje Süße, was ist los?

red_lioness: Heimweh, das ist alles.

king_pin58: Wenn du den Blues fühlst, musst du nur

red_lioness: King, hast du einen Fernseher in der Nähe?

king_pin58: klar, bin zuhause.

red_lioness: Machst du ihn bitte an.

king_pin58: ist an.

red_lioness: siehst du hin?

king_pin58: nicht richtig.

red_lioness: schau hin. sag mir, was du siehst.

king_pin58: Kein TV in Kamalaya?

red_lioness: Nicht einmal ein Radio.

king_pin58: Was hast du an?

red_lioness: Bitte king.

king_pin58: OK OK. Nun, passt gut zum schönen Tag.

red_lioness: Oh, dachte ich mir. Was tragen sie?

king_pin58: Will hat eine rote Uniformjacke an, offensichtlich von der irischen Garde. Er wartet mit Harry in der Abbey.

red_lioness: Was hat Harry an?

king_pin58: Schwarze Uniform, Goldtresse, rote Manschetten, Orden auf der linken Brust, ein Seil um die Schultern.

red_lioness. Ein Seil?

king_pin58: Was wäre eine Hochzeit ohne eine ordentliche Hinrichtung?

red_lioness: Sei bitte nicht zynisch. Erzähl weiter king.

king_pin58: Das Publikum applaudiert von draußen, alle warten auf Kate. Noch hat niemand das Kleid gesehen, heißt es. Jemand hält ein Bild von Diana hoch.

red_lioness: Schön.

king_pin58: Wenns dir was gibt.

red_lioness: Hört sich ganz so an, als wärst du kein Royalist, king?

king_pin58: Sie sind nicht mehr das, was sie mal waren.

red_lioness: Du auch nicht, wette ich.

king_pin58: Probieren geht über Studieren.

red_lioness: Ist lange her, dass jemand irgendjemand in Westminster geheiratet hat.

king_pin58: Ist es das?

red_lioness: Nicht mehr seit Andrew … 17. März 1986.

king_pin58: Kate ist da.

red_lioness: Was hat sie an?

king_pin58: Einen Bikini.

red_lioness: KING

king_pin58: Sorry. Ein weißes Kleid

red_lioness: NATÜRLICH IST ES EIN WEISSES KLEID

king_pin58: Wenn man genau hinguckt, kann man ihre Nippel sehen.

red_lioness: Bis dann, king

king_pin58: Sorry, Baby.

red_lioness: Kannst du nicht einfach wiederholen, was sie sagen?

king_pin58: Es ist von Sarah Burton bei Alexander McQueen. Sagt dir das was?

red_lioness: Das sagt mir eine Menge. Weiter.

king_pin58: Kate hat beim Design geholfen. Spitzenappliziertes Mieder, an den Hüften gepolstert, eng an der Taille, von viktorianischen Miederwaren inspiriert, die Schleppe ist drei Meter lang. Soll Gerüchten zufolge 250 Tausend gekostet haben, aber das muss Quatsch sein

red_lioness: Nein ist es nicht

king_pin58: Harry sagt in der Abbey was zu William und er sieht aus als ob er sich in die Hosen scheißt. Kann die Gäste jetzt sehen. Cameron und Clegg, Frau sieht aus als trägt sie einen Sari. Charles, Andrew, Beatrice und Eugenie

red_lioness: oh, wie sehen sie aus?

king_pin58: hübsch

red_lioness: echt?

king_pin58: auf jeden Fall. Eugenie geht in blau, Beatrice in Beige, steht ihr.

red_lioness: Tut es wirklich, oder?

king_pin58: Selbst Andrew sieht für sein Alter passabel aus.

red_lioness: Hübschester Prinz in England.

king_pin58: War er mal.

red_lioness: Was machen die Mädchen?

king_pin58: warten, flüstern sich die ganze Zeit was zu, sehen aufgeregt aus, wie Kinder.

king_pin58: Red?

king_pin58: Red?

red_lionees: Bin da. Erzähl weiter.

king_pin58: Sie geht jetzt den Gang hinunter …


Zwei Wochen später trinke ich in der Lobby des St. Pancras Renaissance Hotels Brandy, um meine Nerven zu beruhigen. Rauchen ist hier nicht gestattet. Mein letzter Joint ist sechzehn Stunden her. Sie erwartet eh, dass ich nervös bin. Findet’s sicher reizend.

Ich habe sie um ein Bild angebettelt, aber sie gab vor, sie hätte eine Art Pferdegesicht, und ich würde dann sicherlich das Weite suchen. Offenbar wollte sie nicht, dass ich weiß, wer sie ist. Die arrogante Zicke denkt, die ganze Welt hat eine vorgeformte Meinung über sie, was halb wahr ist, aber trotzdem arrogant. Sogar in Amerika ist sie jetzt berühmt. Die Leute umarmen sie auf der Straße. Also will sie wohl, dass ich ihr „wahres Ich“ kennenlerne, ohne die ganzen Schlagzeilen und Paläste und die Vierzigtausend bar auf die Hand. Nur, dass ihr „wahres Ich“ all das ist, genau das, wovon sie behauptet, sich einen Dreck drum zu scheren. Ja, dann hol dir doch einen Job bei Tesco, du eingebildete Kuh, und schau, wie dein „wahres Ich“ dort klarkommt.

Der Drink ist fast leer. Ich schlucke die Olive runter. Sieht aus wie das Ei eines Marsmännchens. Kann mein Gesicht im Spiegel hinter der Bar sehen. Nicht gerade ein Traumprinz. Schwindende Haarlinie, Bierbauch, Ekzeme, Hände wie ein Schweinehirt. “Umso besser zum Schweinekratzen, was?“

„Noch einen?“

Ich nicke. Blicke nochmal in den Spiegel. Gesicht beginnt, rot zu werden. Haare müssten gekämmt werden. Red glaubt, ich bin Arzt. Offiziell glaube ich, dass sie eine reiche, geschiedene Frau aus den Grafschaften ist, was sie auch ist, aber eben mehr als das.

Ich habe Sylvie davon erzählt. Indiskret, aber ich vertraue ihr. Sie trug ein enges Bustier, lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Bett, während ich ihr Ohr ausleckte (bin mir nicht sicher, ob sie das mag, aber sie schnurrt und schlängelt sich immer). Ich fing an, ihr von meiner Batman-Fantasie zu erzählen, die sie für klischiert hielt, und dann fing ich mit Red an. Sylvie ist eine Art Beichtstuhl. Als ich fertig war, lag ich in Embryonalstellung da, und sie hielt mich in den Armen. Ich fragte sie, ob ich irgendwas falsch machte.

„Natürlich nicht“, sagte sie.

„Wie das?“

„Ist dein Beruf, oder?“

Hätte heute Morgen zur Gesichtsbehandlung gehen sollen. Wenigstens bin ich geduscht, dann Lynx und Obsession. Der Geruchssinn ist eh der wichtigste Sinn.

Heiliges Strohsackgesicht, Vish. Da starrt dich eine Rothaarige im Spiegel an!

Sie sitzt in einem Lehnstuhl hinter der Bar. Beine übereinandergeschlagen. Schwarze Strümpfe. Ein hochgeschnittenes, ärmelloses Kleid. Haar hängt über die Schultern. Sie hat abgenommen. Eigentlich ziemlich hübsch. Und ich glaube, sie hat mich bemerkt. Ich habe ihr gesagt: „Asiatisch, Mitte Fünfzig, grauer Anzug.“ Ja, sie hat mich ausgemacht. Ein halbes Lächeln. Beine nicht mehr übereinandergeschlagen. Steckt sich ein Bonbon in den Mund. Eher mädchenhaft als verführerisch. Kann sie fast als Kind sehen. Steh auf, Vish. Lächle. Ich sagte lächeln, nicht buckeln. Lass den Drink stehen. Lass ihn einfach stehen. Geh hin. George-Clooney-Zeit.

„Red?“

„King. Wie schön, dich zu sehen.“

Sie steht nicht auf zur Begrüßung.

„Du siehst hübsch aus, Red.“

„Du auch, King. Gott, es hört sich lächerlich an, dich King zu nennen.“

„Vishal.“

„Sarah.“

Wir schütteln einander die Hände, sehr formell. Ich beuge mich hinab und küsse ihre Wange. Riecht gut. Moschusartig, nicht blumig.

Ich setze mich neben sie.

„Seltsam, oder?“

„Was?“

„Das hier. Nach allem, was wir gesagt haben …“

„Du meinst, was wir getan haben.“

Ich lache und platziere meine Hand - ganz beiläufig - auf ihren bestrumpften Schenkel.

„Und jetzt sitzen wir hier. Und wissen nicht, was sagen.“

„Hier sitzen wir.“

„Hast du das Zimmer reserviert, Vishal?“

Himmel, das habe ich nicht erwartet. Aber das ist die Aristokratie.

„Habe ich.“

„Dann sei ein Gentleman und hilf einer Lady auf.“

Ich helfe ihr auf. Sie ist eigentlich ziemlich leicht. Vielleicht hat sie mich deshalb darum gebeten, ihr aufzuhelfen.

Wir gehen hinüber zum Fahrstuhl, betreten ihn. Ich drücke den dritten Stock.

„Sarah“, sage ich. „Bist du … wer ich glaube, dass du bist?“

Sie küsst mich, während die Tür sich schließt, voll und innig, überrumpelt mich.

„Haben wir etwa getrunken, King?“ Ich nicke. „Nein, ich bin nicht, wer du glaubst, dass ich bin. Aber doch, ich bin die Herzogin von York. Überrascht?“

„Eher verblüfft.“

„Tja, du musst irgendetwas richtig gemacht haben, denn du fährst gerade mit einer Prinzessin Richtung Himmel. Wie fühlst du dich dabei, King?“

Ich klopfe meine Taschen ab, schlucke und sage: „Großartig.“

Sie lacht. Mein Gott, sie legt ihre Hand auf meinen Gürtel und zieht mich zu sich. Ich hoffe, sie kann das Mikrofon nicht spüren.


SARAH: Wow, riesig hier.

VISHAL: Kaisersuite.

SARAH: Erwartest du noch jemanden?

VISHAL: Komfort ist einfach schön.

SARAH: Dann leg dich hin, King. Sehr gut. Genau so. Und zieh das aus. Und das. Entspann dich einfach, King. Es ist alles in Ordnung. Jetzt schließ die Augen. Atme tief ein, ja? Aber halt sie geschlossen. Stell dich auf etwas ganz Besonderes ein.

VISHAL: [Unverständlich]

SARAH: Mach die Augen auf.

VISHAL: Was zum -

SARAH: Überraschung!

VISHAL: Aaah!

SARAH: Hab dich. Halt still. Nein, nein, wehr dich nicht, oder ich hau dir in die Eier.

VISHAL: Ich kann nichts sehen.

SARAH: Schon okay. Das kommt wieder zurück.

VISHAL: Verdammte Scheiße …

SARAH: Ganz ruhig.

VISHAL: Verdammt, warum?

SARAH: Du weißt, warum, Vishal Advani. Du weißt genau, warum.

VISHAL: Weiß ich nicht. Fuck, ich schwöre, ich weiß es nicht.

SARAH: Wehr dich nicht. Du scheuerst dir nur die Gelenke wund.

VISHAL: ICH KANN NICHTS SEHEN! WARUM KANN ICH NICHTS SEHEN!

SARAH: Du bist der Arzt, King. Sag du es mir.

VISHAL: Fick dich.

SARAH: Deine Sehkraft kommt in etwa einer Minute zurück. Warte einfach.

[Schweigen.]

SARAH: Besser?

VISHAL: Ja, ein wenig.

SARAH: Also, du bist kein Arzt, oder, Vishal?

VISHAL: Nein.

SARAH: Was bist du dann?

VISHAL: Ein Comedian.

SARAH: Das ist nicht lustig, Süßer.

VISHAL: Aaah! Aufhören. AUFHÖREN. Ich bin Journalist, okay? Ich bin ein Scheißjournalist.

SARAH: Ha ha!

VISHAL: Wa … was machst du?

SARAH: Das ist nur Milch, du großes Baby. Ist gut für die Augen.

VISHAL: Du kannst mich hier nicht festhalten. Das ist Körperverletzung. Willst du noch einen Skandal?

SARAH: Ehrlich gesagt, King, sind mir Skandale völlig schnurz. Ihr könnt über mich schreiben, was ihr wollt, aber ich liebe mich, und das werdet ihr niemals, niemals ändern können, sosehr ihr es auch versucht.

VISHAL: [leise] Du bist ein Witz. Sarah, ist dir das klar? Ein Witz.

SARAH: Red nur weiter, Vishal. Wenn ich dich gehen lasse - falls ich dich gehen lasse -, bist du selbst es, mit dem du leben musst.

VISHAL: Und wer muss mit dir leben? Ich bemitleide jedes Arschloch, das neben zwei Titten aufwachen muss, die an einen Hotdog getackert sind.

SARAH: Solche Sprüche haben mich früher verletzt, Vishal. Ich habe geweint, wenn sie mich Herzogin von Pork oder fette Fergiefutt genannt haben. Das warst wahrscheinlich du selbst, der das geschrieben hat, was?

VISHAL: Was soll das hier also sein? Rache?

SARAH: Ein Abschluss.

VISHAL: Woher hast du es gewusst?

SARAH: Woher ich es gewusst habe? Mann, jedem Dorfdeppen wärst du aufgefallen. Es war so offensichtlich, Vishal.

VISHAL: Wieso hast du dann mitgespielt? Hast du nichts Besseres zu tun?

SARAH: Weil ich, ob du es glaubst oder nicht, angefangen habe, dich zu mögen, du bemitleidenswertes Ding.

VISHAL: [schnaubt] Wünschte, das würde auf Gegenseitigkeit beruhen.

SARAH: Tat es vielleicht auch. Du warst so nett zu mir, während der Hochzeit. Und so lieb, bei den Mädchen, hast mir alles gesagt, was ich hören wollte, und so behutsam. Ich kann gar nicht glauben, dass das alles fingiert war.

VISHAL: Also, was willst du, Red?

SARAH: Wenn du mal eine Atempause von deinem Selbsthass einlegen würdest, könntest du vielleicht erkennen, dass wir bereits Freunde sind. Die Verbindung ist da. Vielleicht hast du deshalb solche Schmerzen.

VISHAL: Ich habe solche Schmerzen, weil du mir Pfefferspray in die Augen gesprüht hast.

SARAH: Du hast Schmerzen, weil du hierhergekommen bist, um eine Freundin zu betrügen. Und ich habe dir einen Gefallen getan, indem ich dich daran gehindert habe. Und jetzt werde ich dir noch einen Gefallen tun.

VISHAL: Nur, damit du’s weißt, ich würde eher einen riesigen Scheißhaufen ficken als …

SARAH: Hier geht es nicht, und ging es nie, um Sex, King.

VISHAL: Hättest mich fast getäuscht, Schlampenfresse …

SARAH: [lacht leise] Ich hab’s meiner Psychoanalytikerin gegeben, wegen des Dirty Talks. Sie hat immerhin gut gelacht. Hat gesagt, dass du ganz schön erfinderisch bist.

VISHAL: Fick dich.

SARAH: Und als sie sich auf dem Balkon geküsst haben, warst du so freundlich, mir zu sagen, wie „süß“ Fergie doch vor zwanzig Jahren aussah. Das war das Wort, dass du gebraucht hast, oder?

VISHAL: Es gehört zu meinem Beruf, Idiotinnen wie dich zu belügen.

SARAH: Unsere Berufe sagen etwas darüber aus, wer wir sind.

VISHAL: Zumindest habe ich einen Scheißberuf.

SARAH: Ich hatte mehr als einen Beruf. Ich hatte meine eigene Firma. Und jetzt habe ich sie verloren. Ich habe alles verloren. Und weißt du, warum?

VISHAL: Wegen Leuten wie mir.

SARAH: NEIN. Das hatte nichts mit euch zu tun. Es war, weil ich mich selbst nicht mochte. Ich wollte mein Leben sabotieren. Kannst du das verstehen? Magst du dich selbst, Vishal?

[Schweigen.]

SARAH: Dann lässt du mir keine andere Wahl. [Eine Spraydose ist zu hören.]

VISHAL: Verdammte Scheiße. AUFHÖREN.

SARAH: Kooperierst du?

VISHAL: Meinetwegen.

SARAH: Dann beantworte meine Fragen.

VISHAL: Dann stell eine Scheißfrage.

SARAH: Magst du dich selbst, Vishal?

VISHAL: Nein.

SARAH: Warum nicht?

VISHAL: Weil ich ein fetter, hässlicher Hurensohn bin, der allen scheißegal ist.

SARAH: Was ist mit deinen Eltern? Lieben sie dich nicht?

VISHAL: Nein.

SARAH: Bist du dir da sicher?

VISHAL: Sprich nicht so von oben herab. Du weißt nichts über mich.

SARAH: Woher weißt du, dass sie dich nicht lieben?

VISHAL: Woher weißt du, dass sie überhaupt noch leben?

SARAH: Weiß ich nicht.

VISHAL: Komm, mach mich einfach los, und wir vergessen, was passiert ist.

SARAH: Zwing mich nicht, es wieder zu tun, Süßer. Das wollen wir beide nicht.

VISHAL: Sadistische Schlampe.

SARAH: Letzte Chance.

VISHAL: Mein Vater starb und ließ uns ohne Geld zurück.

SARAH: Und dann?

VISHAL: Und dann hat mein großer Bruder sieben Jahre lang Medizin studiert und uns völlig leergesaugt, während ich dabei zusah, wie unsere Fenster von zwölfjährigen, weißen Jungen eingeworfen wurden. Und wenn ich von der Schule nach Hause kam mit Scheiße auf dem Rücken, schlug meine Mutter mich und sagte mir, ich wäre nutzlos. Also haute ich so schnell wie möglich ab und wollte nie wieder zurück, und jetzt wohnt sie mit meinem Bruder in Crawley, und wenn ich sie besuche, sagt sie mir, meine Frau habe mich verlassen, weil ich zu fett bin. Hört sich das für dich wie Liebe an?

SARAH: Nein.

VISHAL: Nein. Mach mich frei und lass mich gehen.

SARAH: Wir sind noch nicht fertig.

VISHAL: Ich schon.

SARAH: War es in Ordnung von deiner Mutter, dir zu sagen, dass du nutzlos bist, King?

VISHAL: Ja.

SARAH: Warum?

VISHAL: Weil ich es war.

SARAH: Wessen Worte sind das?

VISHAL: Wessen denkst du denn? Meine.

SARAH: Bist du dir sicher?

VISHAL: Ja.

SARAH: Was hat sie noch zu dir gesagt?

VISHAL: Sie sagte, sie wünschte, ich würde mich einfach verpissen und abhauen, weil sie es satt hatte, für mich zu sorgen.

SARAH: Und du bist abgehauen.

VISHAL: Irgendwann dann.

SARAH: Aber war es nicht ihre Aufgabe, für dich zu kochen und deine Kleider zu waschen?

VISHAL: Eigentlich nicht, nein. Hätte ich auch selber machen können.

SARAH: Kochen nicht die meisten Mütter für ihre Söhne? Und waschen ihre Kleider?

VISHAL: Sie hatte keinen Mann. Also keine Zeit.

SARAH: War es okay von ihr, zu sagen, dass sie dich weghaben will? Ist es okay von einer Mutter, sowas zu sagen?

VISHAL: Sie hat gesagt, sie hätte es lieber, wenn ich statt meines Vaters gestorben wäre.

SARAH: Und war das in Ordnung?

VISHAL: Du warst nicht da.

SARAH: Deshalb frage ich dich.

VISHAL: Sie hat den ganzen Tag in der Psychiatrie gearbeitet. Machte sie ganz verrückt, den ganzen Tag von ihnen umgeben zu sein. Und dann musste sie noch zu mir nach Hause.

SARAH: Was war denn so schrecklich an dir, Vishal?

VISHAL: Hab früher Geld für Kippen geklaut. Half nichts. Bin in meinem Zimmer geblieben oder rausgegangen, um mich zu besaufen. Machte es alles nur noch schlimmer für sie. Wäre auch besser gewesen, wenn ich gegangen oder gestorben wäre. Aber ich hatte nicht den Mumm.

SARAH: Auch wenn sie nicht anders konnte, Vishal, so war es doch nicht okay von ihr, solche Dinge zu sagen. Es war nicht okay, dass sie nicht freundlich und liebevoll zu dir war, so wie du es zu mir im Chatroom warst. Viele Teenager klauen Geld für Kippen oder besaufen sich mit Freunden oder grummeln, wenn sie nach Hause kommen. Das ist normal.

VISHAL: Wir waren nicht normal.

SARAH: Ist das deine Schuld?

VISHAL: Ich war egoistisch.

SARAH: Ich auch. Und sie auch. Findest du, es ist selbstlos, verletzende Dinge zu seinem Sohn zu sagen, anstatt ihn zu lieben? Findest du das?

VISHAL: Sie war depressiv.

SARAH: Und das macht es okay?

VISHAL: Mein Vater war tot.

SARAH: Es war nicht okay, Vishal. Denk dir keine Entschuldigungen für sie aus. Sag es. Sag, dass es nicht okay war.

[Schweigen.]

SARAH: Mach es nicht für mich, Vishal. Mach es einfach für dich. Sag es. Sag, dass es nicht okay war.

VISHAL: Du kannst mich nicht zwingen.

SARRAH: Stimmt. Kann ich nicht. Aber du musst verstehen, dass sie kein Recht hatte, dir diese Dinge anzutun. Es war ihr Schmerz, nicht deiner. Entschuldige es nicht, Vishal. Vergib ihr einfach. Vergib dir.

VISHAL: Kann ich gehen?

SARAH: Nein.

VISHAL: [kreischt] ICH WILL GEHEN!

SARAH: Weißt du, wie man vergibt, Vishal?

VISHAL: [weint fast] Nein.

SARAH: Wenn du vergibst, gibst du die Hoffnung auf, die Vergangenheit ändern zu können. Kannst du die Vergangenheit ändern, Vishal?

VISHAL: Nein.

SARAH: Aber du kannst die Perspektive auf sie verändern. Du kannst dir selbst sagen, dass es nicht deine Schuld war, dass es nicht gerecht war. Du kannst das Kind, das so verletzt wurde, lieben. Kannst du das, Vishal?

VISHAL: Wir haben nicht alle im beschissenen Buckingham Palace gewohnt.

SARAH: Ja, ich hatte das, was jedes Mädchen will. Aber weißt du was? Die ganze Zeit, die ich da war, habe ich mir selbst gesagt: Ich Verdiene Das Nicht. Ich Sollte Gar Nicht Hier Sein. Ich Bin Dumm und Hässlich und Nutzlos. Und ich habe es alles selbst ruiniert. Das war nicht die Presse. Ich war das.

VISHAL: Aber du lässt es an mir aus, oder?

SARAH: Tue ich nicht. Das würde ich nicht tun. Ich brauche keine Rache. Ich klage niemanden an. Sag mir nur das eine, Vishal. Was hättest du mit dem Tape gemacht hiernach? Es verkauft?

VISHAL: Ja.

SARAH: Wie bei Charles und Camilla?

VISHAL: Kann sein.

SARAH: Kannst du dir all den Schmerz vorstellen, den das verursacht hätte?

VISHAL: Ich dachte, du hättest gesagt, dir ist es egal.

SARAH: Aber was ist mit meinen Mädchen? Es hätte sie tief verletzt.

VISHAL: Und?

SARAH: Also hätten zwei wunderbare, gutmütige Mädchen, die niemandem etwas angetan haben, wegen dir furchtbar gelitten. Und das stört dich nicht?

VISHAL: Nö.

SARAH: Warum nicht.

VISHAL: Es ist einfach das, was ich tue.

SARAH: Warum?

VISHAL: Weil es mein Job ist.

SARAH: Aber warum musst du es tun?

VISHAL: Jemand muss es tun.

SARAH: Wie ist dein Vater gestorben, Vishal?

VISHAL: Was hat der damit zu tun?

SARAH: Vishal, bitte, wie ist dein Vater gestorben?

VISHAL: Wurde vom Fahrrad gestoßen, von irgendeiner Fotze, die ihn überholt hat.

SARAH: Das tut mir leid.

VISHAL: Es ist nicht deine Scheißschuld.

SARAH: Es tut mir leid, dass das geschehen musste. Es muss hart gewesen sein, ohne Vater aufzuwachsen. Und ohne Mutter, irgendwie.

VISHAL: Ja, ich bin abgefuckt. Schon verstanden.

SARAH: Ist dir je der Gedanke gekommen, dass du diesen Job nur machst, um dir selbst wehzutun, weil du denkst, dass du es verdienst, wenn die Leute dich hassen und für Abschaum halten?

VISHAL: Ich hatte keine Wahl. Das oder gar nichts.

SARAH: Man hat immer eine Wahl.

VISHAL: Was weißt du schon? Denkst du, die ganzen Paparazzi, die du hast, gehen in ihre Paläste nach Hause?

SARAH: Ich sage nur, dass wir unser Leben wählen. Es gibt keine Opfer, nur Freiwillige. Ich glaube, dass du dir die Schuld gibst, dass deine Frau dich verlassen hat, und dass deine Mutter unglücklich war, und dass du in der Schule gemobbt wurdest. Ich glaube, du hast sehr viel Hass empfangen in deinem Leben, also denkst du, dass du hasserfüllt und hässlich bist und nichts Besseres kannst, als ein Gossenjournalist zu sein, der das Leben von anderen Leuten zerstört. Aber das ist einfach nicht wahr. Du bist schön und wunderbar und warst das schon immer.

VISHAL: Nein, bin ich nicht.

SARAH: Schau, ich habe dir die Fesseln jetzt abgenommen. Ich habe keine Angst vor dir. Weißt du, warum? Weil Vishal Advani ein guter Mensch ist. Vishal Advani ist ein wunderschöner Prinz von einem Menschen, ein liebenswerter König, der mit seinem Leben neu anfängt.

VISHAL: Ich will einen Drink.

SARAH: Trink etwas Milch. Sie wird dir guttun.

VISHAL: Schau, es tut mir leid, okay? Ist es das, was du willst?

SARAH: Du musst dich nicht entschuldigen. Ich sollte dir danken. Du hast mir die Möglichkeit gegeben, etwas Richtiges zu tun, etwas zu ändern. Auch ich habe Menschen verletzt, Vishal. Ich habe so viele Menschen verletzt.

VISHAL: Ja, aber der News of the World-Typ war ein Arsch.

SARAH: Ich habe ihn in mein Leben eingeladen. Jeder Idiot hätte mir sagen können, dass es eine Falle war. Aber ich war so verzweifelt und gebrochen.

VISHAL: Und jetzt hast du dich in Oprah verwandelt.

SARAH: Ich habe noch immer Probleme. Ich habe seit fast zehn Jahren keinen Freund mehr gehabt. Hast du eine Freundin, Vishal?

VISHAL: Nein.

SARAH: Hast du Freunde? Echte Freunde?

VISHAL: Ja, ich habe Sylvie.

SARAH: Wer ist Sylvie?

VISHA: Meine … eine Prostituierte. Ich gehe einmal die Woche zu ihr.

SARAH: Es tut mir leid, so schroff zu sein, Vishal, aber sie ist nicht deine Freundin. Sie mag dich vielleicht, vielleicht auch nicht, aber ich bezweifle sehr, dass es sich hier um Freundschaft handelt. Echte Freundschaft bedeutet, sich einander anzuvertrauen. Vertraut sie sich dir an?

VISHAL: Schön. Dann habe ich keine Scheißfreunde. Von mir aus.

SARAH: Vergisst du da nicht was, Vishal?

VISHAL: Was?

SARAH: Bin ich nicht deine Freundin? Hast du dich mir nicht anvertraut?

VISHAL: [Pause.] Ja.

SARAH: Warum machst du dich dann nicht kurz frisch, und wir können nach unten fahren und zusammen zu Abend essen? Was meinst du?

VISHAL: Ja.

SARAH: Und was ist mit dem Tape?

VISHAL: Das hast du.

SARAH: Ich fühle mich, als würde ich dich jetzt gerade erst kennenlernen, Vishal. So fühle ich mich wirklich. Und du lernst mich auch kennen. Und ich bin froh, dass wir uns getroffen haben. Bist du das nicht auch?

VISHAL: Doch.

SARAH: Mein Name ist Sarah.

VISHAL: Vishal.

SARAH: Freut mich, dich kennenzulernen.


„Und, hat’s gegrunzt?“, sagt Clive, zurück vom Tresen.

„Sie ist nicht aufgetaucht“, sage ich.

„Du armes Schwein“, sagt Clive und verschüttet Bier über seine Hose, ohne es zu merken.

„Ich habe zwei Stunden lang im Hotel gewartet“, sage ich ihm.

„Und was jetzt?“, sagt Clive.

„Warte mal.“

Ich bekomme eine SMS. Und jetzt noch eine. Und noch eine. Mein ganzes bescheuertes Telefon zappelt und piept wie ein spastischer Roboter. Clive holt sein Telefon raus und legt es auf die Bar. Bei ihm das Gleiche. SMSe, Emails, Twitter, Facebook. Ich schaue mich im Pub um. Voller Journalisten hier. Hört sich an wie eine Happy House-Party. Alle reden dasselbe Zeug.

“Was zum Teufel!“ und “Um Gottes willen!“ und “Das Kann Doch nicht Wahr sein, Oder?“

Aber ich weiß bereits, dass es wahr ist. Wenn es ein Hoax wäre, hätte es nicht schon den ganzen Pub übernommen.

Clive hält sein Telefon hoch, so dass ich mir das Video ansehen kann. Es sieht für mich echt aus. Und ich habe stundenlang über Bildern von diesem Mann gesessen.

„Gott, Vish“, sagt Clive. „Wir müssen los.“

„Wohin?“

„Bahrain“, sagt Clive mit Blick aufs Display. „Er ist in Bahrain.“

Die Leute rennen bereits zur Tür und bellen in ihre Handys. Ich kann Derek vom Mirror sehen. Ich schwöre, er hat einen Ständer.

„Vish“, sagt Clive. „Wo gehst du denn jetzt hin?“

„Pissen.“

„Ja, beeil dich, scheiße. Wir müssen zum Flughafen.“

„Und dann gehe ich nach Hause“, sage ich zu ihm.

„Dein Zeug packen. Okay, ich hole dich da ab, ja?“

„Und dann gehe ich ins Bett.“

Bett?“, sagt Clive, als ob er das Wort noch nie gehört hätte.

„Ja, für etwa eine Woche.“

„Was zur Hölle?“

„Ich muss nachdenken, Clive. Das hier bedeutet mir alles nichts. Bahrain ist mir egal. Das Video ist mir egal.“

Clive sieht aus, als würde er das Glas nach mir werfen, aber er wird stattdessen hellrosa.

„Verarsch mich nicht, Vish.“

„Ich meine es ernst, Clive. Es ist mir scheißegal.“

„Das ist Schwachsinn. Weil, selbst wenn du ins Bett gehst, wird jemand die Bilder machen, und jemand wird sie drucken, und dann wachst du auf und liest es und denkst Fuck, das hätte ich sein können, und dann wird es dir nicht mehr scheißegal sein. Das verspreche ich dir!“

„Vielleicht, aber vielleicht werde ich auch lächeln. Schon mal daran gedacht?“

„Verpiss dich, Vish.“

Mache ich. Aus dem Pub raus und auf die dunkle Straße. Aber ich gehe nicht nach Hause. Ich gehe einfach spazieren, so lange und so weit, wie ich kann. Ich stecke mein Portemonnaie und iPhone in die Aktentasche und lasse diese auf der Treppe der St. Brides-Kirche stehen. Sarah und ich haben nie zusammen gegessen. Ich verschwand, sobald sie mich von den Fesseln befreit hatte, saß aber eine Stunde lang trinkend an der Bar, für den Fall, dass sie noch runterkäme. Sie kam nicht. Als ich versuchte, das Zimmer anzurufen, war besetzt, also ging ich nach Hause.


Ich bin jetzt stundenlang gegangen. Habe den Fluss überquert, habe ihn erneut bei Waterloo überquert. Ich kann mich nicht erinnern, wo ich war, aber ich habe eine Statue mit einem Mann und einem Pferd angestarrt, als ein Laster gegenüber anhielt und vier Männer begannen, eine riesige Box in einer Plane zu entladen, sich dabei abplagten und schwitzten. Ein starker Wind wehte und hob den Saum der Plane für eine Sekunde an. Ich bin mir sicher, dass ich einen Tiger in einem Käfig sah. Also, fast sicher. Alkoholpsychose: witzige Sache.

Es hat angefangen zu regnen. Ich hatte einen Schirm, habe ihn aber im Pub gelassen. Ich bin am Trafalgar Square, denke an Soho und an Glory Holes. Der Regen nimmt zu, aber er ist warm, wie ein Golden Shower, und ich wende ihm mein Gesicht zu und lasse ihn in Nase und Augen laufen. Ich gehe die Promenade hinunter, blicke nur auf meine Füße, bis die Straße breiter wird und ich vor den Toren des Palasts stehe und dieses flache, graue Gebäude anstarre.

Ich frage mich, in welchem Zimmer sie damals gewohnt hat. Da hatte sie Hofdamen, Butler, Fahrer. Mitten in London, und sie konnte meilenweit gehen und nur Vögel und Bäume sehen. Tausende hätten Schlange gestanden, um sie nur winken zu sehen. Und sie hat es verkackt. Alles.

Ich gehe langsam zurück, sehe ein Taxi und winke es heran. Ich sage „Fleet Street“, steige aber bei der St. Brides-Kirche aus, wo der Himmel ein wenig heller ist, ein wässriges Blaugrau. Meine Aktentasche steht noch immer da, auf der Treppe vor der Kirche. Sieht so aus, als hätte sie niemand auch nur berührt. Portemonnaie, Telefon, Laptop, alles da. Das Taxi wartet am Straßenrand, also setze ich mich für eine Weile auf die Treppe, öffne meine Aktentasche und hole das Telefon hervor. Eine Menge Nachrichten, vier von Clive und eine von Sarah. Ich stehe auf, ein durchnässtes, durchweichtes Fiasko.

„Flughafen Heathrow“, sage ich dem Taxifahrer.

„Wann geht dein Flug?“

„Weiß nicht.“

Clive hatte recht. Es kann einem nicht scheißegal sein. Keinem ist es scheißegal; sogar denen nicht, die es behaupten, denn sie behaupten es so laut, dass es gelogen sein muss. Und Red kann über die Presse und die Leute sagen, was sie will, aber sie liebt es und könnte ohne uns nicht leben. Ohne uns wäre sie lediglich Sarah, und ich wäre nur ich, und das will keiner von uns. Also können wir vielleicht nicht ändern, wer wir sind, aber ich glaube, dass sie in einem Punkt recht hat - all die Scheiße, die uns widerfahren ist … es ist nicht unsere Schuld. Es ist einfach passiert, wie der Regen passiert, und die Sonne, die in ungefähr einer Stunde aufgehen wird. Es passiert sowieso.

Ich höre ihre Nachricht ab. Ihre Stimme lässt mich lächeln. Eine größere Annäherung ans Glück wird es in meinem Leben nicht geben.

10.

Ich esse im Adlon in Berlin zu Mittag mit zwei Wirtschaftswissenschaftlern und einem Juraprofessor. Der Kellner spricht mit einem Paar am Nebentisch.

“Michael Jackson ist tot!“

Der Holländer übersetzt.

„Wer hätte das gedacht“, sagt der Norweger.

„Es war wohl unvermeidlich“, sagt der Juraprofessor.

„Und ich sage nochmal, dass von konventioneller Ökonomie nicht erwartet werden kann, eine Krise zu regulieren“, sagt der Holländer.

„Meine Herren“, sage ich. „Bitte entschuldigen Sie mich.“

In der Drehtür reiße ich mir die Krawatte ab und bin also kein Wirtschaftswissenschaftler mehr. Ich rufe Jay von meinem iPhone an, lasse es klingeln, bis eine automatische Stimme mir etwas auf Deutsch erzählt, was, wie ich annehme, wohl heißt: “Ihr Gesprächspartner versteckt sich in seinem Zimmer und ist zu suizidal, um zu antworten.“

Zu meiner Linken, auf dem Brandenburger Tor, lenkt eine geflügelte Frau, die den Ruhm verkörpert, vier Pferde in den unbeweglichen Morgen. Auf der anderen Straßenseite steckt ein bezopfter Araber seinen Kopf aus dem Schiebedach einer Limousine, bläst Rauch in die Luft und seufzt vor Vergnügen. Ich frage mich, wie Jay es erfahren hat. Wer hat dich angerufen? Was hast du getan, als du es hörtest?

Jemand tanzt auf der gepflasterten Insel mitten auf der Straße. Er trägt einen Diamantenhandschuh, sieht aber aus wie Bruce Willis. Zwei Mädchen liegen sich in den Armen und heulen wie Sirenen. Die Lebenden rufen die Toten an. Ich tippe erneut auf mein iPhone ein. Es brummt weiter, eine Nulllinie auf der Intensivstation …

“Varun, geht’s dir okay?“

Thomas Richter: schrieb einen Aufsatz über die Zuwachsaussichten der BIP für ölexportierende, afrikanische Staaten.

„Deine Hände zittern.“

Ich blicke ihm streng in die dollarfarbenen Augen. Da ist ein Mensch drin. Fang mich auf, Tom, ich falle …

„Es gab einen Todesfall in der Familie, Tom.“

„Wie kann ich helfen?“

Wirtschaftswissenschaftler: zu effizient für Gefühle.

„Kannst du mir einen Flug buchen?“

„Geh hoch, packen.“

Ich eile in mein Zimmer. Als ich zurückkomme, hat Tom mir ein Taxi bestellt, meine Flugdaten ausgedruckt, meine Rechnung beglichen und mir einen Whiskey geordert.

Im Taxi wähle ich nochmal Jays Nummer. Ich rufe in Fünf-Minuten-Intervallen an, bis ich im Flugzeug bin und die Stewardess mir einen Irish Coffee bringt. Ich lege meinen Kopf in meine zittrigen Hände. Der Pilot macht eine Durchsage über den Lautsprecher: “Meine Damen und Herren, folgende Nachricht hat uns soeben erreicht …“

„Geht es Ihnen nicht gut?“, fragt meine Nachbarin, die, wie ich feststelle, ein Nonnengewand trägt.

„Ich mache mir Sorgen um meinen Bruder“, sage ich zu ihr.

„War er ein großer Fan?“

„Sein ganzes Leben lang.“

„Es wird ihm wieder gutgehen.“


1978, Tag des Kindes, Leigh Village, Lancashire. Jay ist sieben, ich zehn. Wir sind die einzigen Asiaten weit und breit, und unsere Mutter hat uns bei einem schrillen Kostümwettbewerb angemeldet. Wir sind unsicher und scheu, doch Mama hat wochenlang an unseren Kostümen gewerkelt: Rüschenhemden, Golfschuhe, Afroperücken, glockige blassblaue Smokings. Wir sind die Jackson 5, wir beiden. Jay ist Michael, ich Tito.

Die Jury kommt, und wir schwingen nach links, schwofen nach rechts, machen einen Spagat (eine leichte Übung für beide). Hinter der Jury glotzen uns Jungen mit schlitzäugigem Hass an. Wir senken den Blick auf unsere Schuhe („Schwarzfüße“, „Negerpuppen“). „Lächelt“, sagt Mama.

Am Abend, zuhause, tanzen wir zu „ABC“ auf dem Sofa. „Erster Preis!“, schreit Papa wieder und wieder, und Mama stellt die Trophäe auf die Fensterbank, wo sie alle sehen können. Wir schlafen in unseren Smokings. Das haben wir uns verdient.

Jay trägt den seinen den ganzen nächsten Tag über, und die folgenden auch. Ich erwische ihn in seinem Zimmer, wie er zu „I Want You Back“ die Lippen bewegt und tanzt. Er hört nicht auf, als ich eintrete.

„Was machst du?“

„Üben“, sagt Jay.

„Üben für was?“

Er antwortet nicht, aber er übt Tag um Tag weiter.

Manchmal mache ich mit, spiele auf einem Tennisschläger, während er an der Bühnenrampe in Ekstase gerät. Er schreit mich an, wenn ich einen Fehler mache, also drohe ich, seine Schallplatten aus dem Fenster zu werfen, und er weint.

1979. Wir haben einen Videorekorder. Papa schaut Rennsport und Western; ich mag alte Monsterfilme; Jay mag Off the Wall. Er imitiert Michaels Falsett. Jay ist jetzt solo, hat mich gefeuert wie Michael seine Brüder. Aber ich habe eh das Interesse verloren. Papa schreit ihn an. „Du vergeudest deine Zeit! Lies! Schreib! Denke!“

„Er sollte Tanzunterricht nehmen“, sagt Mama, „wenn er es ernst meint.“

Das tut er. Jazz, Steppen, Ballett. Aber er bricht alles ab. Für Jay ist das nicht Tanzen.


1982. Jay trägt nun eine Sonnenbrille, weiße Socken und Slipper. Er hat auch einen weißen Handschuh, von Mama, aber er trägt ihn nur zuhause. Ich kaufe ihm zum Geburtstag Thriller auf Kassette, doch er hat es schon auf Vinyl. Er hat’s geklaut.

Später im Jahr kommt er zu mir aufs St. Werburgh’s-Jungengymnasium. Ich bin in der vierten Klasse und voller Hauttalg. Ich suche ihn in der Mensa, aber er will nicht mit mir essen. Zu meiner Überraschung latscht er in Vierer- oder Fünfergruppen durch die Flure, ein Klon seiner weißen und säkularen Kumpel, nur ist seine Hose zu kurz, und seine Socken glitzern. In seinem zweiten Jahr gründet er einen Michael Jackson-Fanclub. Er besteht aus ihm, der mit seinen Moves angibt, und den Sozialkrüppeln, die um ihn herumstehen und sagen: „Du bist echt gut!“, und: „Kannst du mir das beibringen?“ Er ist eine kleine Kultfigur, ein homoerotisches Symbol für die Fantasie Zwölfjähriger.


1984. Ich bin in der Spätpubertät. Ich schlafe nachts auf dem Boden und habe grelle, adoleszente, haschbefeuerte Träume. Ich komme mit roten Schlitzaugen nach Hause, belle die Gifte der letzten Nacht hervor und erblicke einen Scheck über 20 Dollar und eine Trophäe aus Messing. Jay hat eine Talentshow gewonnen. Er hat „Billie Jean“ per Lip-Sync nachgesungen, sich in den Schritt gefasst und seinen Hut in die geriatrische Menge geworfen. Aber Jay ist in Mathe durchgefallen. Papa schmeißt die Trophäe über die Hecke. Als Jay geht, sagt er: „Dann werd halt ein Hermaphrodit.“

Ich nehme Jay in den Bald Eagle mit, das erste Mal, dass wir zusammen ausgehen. Limonade für ihn, ein Bier für mich. Ich mische die Drinks zusammen. „Bist du schwul?“, frage ich ihn. Er weint fast, sagt dann:

„Ich liebe Michael einfach.“

Ich berühre seine Hand. „Ist okay.“

Zuhause liegt Jays Trophäe mit dem Scheck und einem Zettel auf seinem Bett.

Gut gemacht, steht darauf. In Liebe, Papa.


1986. Ich gehe auf die Universität von Cambridge, studiere Wirtschaftswissenschaften. Ich verbringe Weihnachten bei meiner Freundin in Brighton, während ihre Eltern in Frankreich sind. Im Sommer reise ich mit vier anderen Leuten nach Spanien. Wir tragen den ganzen Tag kurze Hosen, trinken Wein, nehmen LSD und Pilze, gehen auf Musikfestivals. Ich komme im August nach Hause zurück, das erste Mal seit elf Monaten.

„Ich habe Hockey gespielt“, sagte Jay. „Dabei hab ich sie mir gebrochen.“

Das ist vielleicht wahr, aber Jay hat sich die Nase korrigieren lassen. Sein Haar ist lang, seine Haut - aber da bin ich mir nicht sicher - sieht heller aus.

Wir gehen in den Bald Eagle, und die Leute starren sein Seidenhemd und seinen schwarzen Fedorahut an. Er trägt Make-up; seine Wimpern sind lang. Jay ist ein Freak, hier, wo die Teenager weiße, nordländische, postpunkistische New Romantics sind. Sie hören Depeche Mode, Sonic Youth, Metallica. Er hört Bad. Er zeigt mir das Cover, und ich sage:

„Warum nur, warum zieht er sich so an, Jay. Sorry, Alter, aber er sieht wie ein Arschloch aus. Wer sagt ihm das, dass er das tun soll? Nenn mir einen Namen.“

Jay spuckt mir ins Gesicht und geht.


1989. Jays Noten sind schlecht, aber er krallt sich einen Studienplatz an der Universität von Northumbria in Newcastle. Mein Vater ist erleichtert. Ich bin in Harvard und mache meinen Doktor (Internationale Wirtschaft: Integration der Finanzmärkte in Ostasien). Ich besuche ihn in seinem Studentenwohnheim, schlafe am Ende aber allein in seinem Zimmer. Seine Mitbewohner sagen, sie wüssten nicht, wo er ist. Ich warte den ganzen Tag auf ihn, aber er taucht nicht auf.


1991. Jay hat das Studium abgebrochen und ist nach London gezogen.

„Das lasse ich ihm“, sagt mein Vater zu mir. „Er verdient sein Geld.“

„Wirklich?“

„Absolut.“

Ich nehme an, Papa betrügt sich selbst, von Jays Schicksal ganz gebrochen. Ich will mich selbst überzeugen.

„Ich mache alles“, sagt Jay in seinem möblierten Zimmer in Bethnal Green. „Hochzeiten, Bar Mitzwas, Privatpartys. Ich war zweimal Vorband von Björn Again. Ich habe bald eine ganze Reihe von Solo-Auftritten. Komm und schau’s dir an.“

Das mache ich. Er wird als M-Jay angekündigt, seine Termine sind um Michaels Dangerous-Tour herum angesetzt. Die Fans sehen die Konzerte als Vorgeschmack auf das wahre Ding an; oder als Trostpreis für die Ticketlosen. Ich gehe an einem Samstagabend hin. Etwa sechzig Leute sind zugegen. Das Set ist mit dem von Michael identisch, aber ohne Effekte, Tänzer oder Live-Musiker. Jay hält sich zwei Stunden in der Maske auf, singt dann Vollplayback. Selbst für mich ist der Unterschied nur schwer zu erkennen. Ein paar „Fans“ kreischen vorne an der Bühne. Eine fällt sogar in Ohnmacht.


1992. 31. Juli. Jay nimmt mich, Mama, Papa und meine Freundin nach Wembley mit, um (ihn in echt zu sehen) das wahre Ding zu sehen. Wir müssen nicht anstehen. Unsere Plätze sind im VIP-Bereich. Mein Vater hat Spaß daran, sich mit den Menschen um ihn herum zu unterhalten. Er muss sonst nur die südasiatische Gesellschaft im finstersten Lancashire ertragen, doch jetzt lernt er einen Zahnarzt aus Southall und sechs Jainas aus Tottenham kennen. Er spricht ein stockendes Hindi, isst sogar Samosas und Mithais. Dann leuchtet die Videoleinwand auf:


MICHAEL JACKSON

DANGEROUS: WORLD TOUR


Filmmaterial von Menschenmassen in Köln, Tokyo, Rio, Paris, Dallas, Atlanta, Rom. Unsere Masse vereint sich mit ihnen in einem globalen Schrei, wogt, schäumt, zum Brechen bereit. Marschgeräusche. Eine Armee kommt auf uns zu. Er kommt er kommt. Jay lächelt, regt sich, tanzt wie einer, der mit der Droge vertraut ist. Zweiundsiebzigtausend recken die Hände in die Höhe und deuten auf etwas. Unsere Egos schweben über uns. ABC. Erster Preis! Diamantene Socken. Bist echt gut. DANGEROUS. Arme ausgebreitet, weit wie Adler, zwei Worte auf dem Screen: SEID BEREIT.

Nichts. Nichts. Nichts.

Da!, sagt Mama.

Wir stehen auf unseren Sitzen, stargebannt.

Michael bewegt sich nicht. Wind fährt durch seine Haare. Minuten vergehen. Der Zahnarzt weint, die Jainas kreischen. Es ist ein Wunder. Die Speisung der Siebzigtausend. Kreische ich auch? Ich auch, ich auch!

Über drei Stunden werden wir in eine andere Dimension der Wonne transportiert, perfekt und überwältigend. Ich hatte vergessen, was für ein guter Entertainer Jackson einfach ist. Ich weine sogar bei „Heal the World“. Als „ABC“ anfängt, dreht sich Jay zu mir um und lächelt, und ich weine erneut. Nach dem letzten Stück fasse ich den ehrlichen Entschluss, mich selbst anzusehen und etwas zu verändern. Mama und Papa, glaube ich, auch.

Jay nimmt uns mit auf eine Party in einem Hotel, ein special event für die Fans. Inmitten von Tischdecken, Weinkellnern und Sandwiches treffe ich gewöhnliche Männer und Frauen, die ihr Leben einem einzigen Menschen gewidmet haben. Jay scheint alle zweihundertfünfzig Menschen dort zu kennen.

„Wir haben uns in London getroffen, oder? Da hattest ein Banner, von Bad, nicht wahr? Du hast es selbst gesprayt? Wenn Michael solche Sachen sieht, hilft es ihm. Er kann die ganze Liebe, den ganzen Aufwand sehen.“

„Du warst in Holland, oder? Ich geh auch hin, klar, aber - kennst du Sally? - Sally war drei Tage da und stand die ganze Zeit vor dem Eingang. Ich meine, sie sagt, es habe Spaß gemacht, aber sie ist nicht reingekommen. Kommt auf seine Laune an. Sie hat gesagt, sie sei auf die Vögel neidisch gewesen, denn die konnten rein, wann immer sie wollten. Vögel im Glück …“

Auf dem Weg in unser Hotel in Earl’s Court wird Papa unwirsch und missbilligend. „Bisschen drüber, dachte ich“, und: „Das ganze Gekreische, wie im Zoo.“ Doch in der Lobby zieht Jay seinen Joker.

„Ich ziehe nach L.A.“, sagt er.

„Was?“, fragt Dad. „Wofür?“

„Sie haben mich eingeladen. Wollen mich ausprobieren.“

„Wer?“

„Michaels Anwälte. Sie erwägen, mich als Double zu nehmen. Wie ein Lockvogel, weißt du.“

„Gut gemacht, Jay“, sage ich später aus meinem Hotelbett zu meinem Bruder, der auf der anderen Zimmerseite liegt.

„Du hast Spaß gehabt, oder, Varun? Ich meine, beim Konzert.“

„Jay. Es war so geil.“


1993. Nach meinem Doktor bin ich Berater bei der Weltbank in New York. Ich mache einem Mädchen namens Marta einen Heiratsantrag auf dem Rockefeller Center. Ich rufe meine Eltern an und hinterlasse eine Nachricht für Jay. Als er zurückruft, sagt er:

„Ich bin drin, Varun.“

„Wodrin?“

„Ich bin Teil des Teams. Ich habe mit ihm telefoniert.“

„Wow.“

„Seine Stimme ist tiefer, als ich dachte.“

„Das ist toll, Jay.“

„Ich spürte, dass es ihn belastet …“

Ein zehnminütiger Monolog über Jordie Chandler folgt, einen Namen, den ich noch nie gehört habe.

„Wir wissen alle, dass er lügt, aber mein Gott; die Polizei durchforstete seine Tagebücher.“

Jay seufzt, kummervoll bedrückt.

„War gut, mit dir zu reden, Var. Wer weiß, vielleicht kann ich das nächste Mal vorbeikommen, wenn ich aus L.A. rauskomme.“

Er legt auf, bevor ich ihm meine Neuigkeiten erzählen kann.


1994. Bei unserer Hochzeit trägt Jay eine rote Fake-Armeejacke, die Schultern besetzt mit schwarzen Perlenketten. Er hatte noch mehr Schönheits-OPs und geht mit einem leichten Buckel. Seine Haut ist viel heller als meine, was früher nicht der Fall war. Ungeschminkt ähnelt er Michael nicht, aber er sieht auch nicht mehr wie Jay aus. An der Rezeption höre ich eine von Martas Freundinnen sagen: „Wer zum Teufel ist das?“

1996. Marta und ich sind nach London gezogen. Ich gebe Vorlesungen an der LSE; sie ist Rechtsreferentin. Wir leben draußen im Westen, von Jay aus gesehen auf der anderen Stadtseite, aber wir gehen zu seiner Liveshow im Herbst. Sie bietet nun auch Spezialeffekte, eine professionelle Lichtshow und eine Tänzergruppe.

Danach nimmt Jay uns wieder auf eine Party mit. Ich sage einer jungen Italienerin, dass ich ein Fan von Pulp bin. Sie beschimpft mich. Es macht die Runde, dass ein Jarvis-Cockerist da sei. Ein fetter Amerikaner mit Dangerous-Hut fordert mich auf, mich zu entschuldigen.

„Wer schert sich einen Scheiß drum?“, sage ich.

„Wir“, sagt der Amerikaner.

„Ihr kennt die Leute gar nicht. Das sind einfach Prominente.“

„Michael ist für uns kein Prominenter. Er ist das Zentrum unserer Leben. Das mag dir dumm vorkommen, aber versuch einfach, es zu respektieren.“

„Michael ist der, den wir zu lieben gewählt haben“, sagt das italienische Mädchen.

„Ihr kennt ihn nicht.“

„Ach, komm, Varun“, sagt Marta.

Jay kommt herüber, ganz elder statesman.

„Deine Freunde sind Idioten“, sage ich zu ihm.

„Er hat Obszönitäten von sich gegeben“, sagt der Amerikaner.

„Sie auch“, sagt Marta.

„Ich würde Jarvis Cocker nicht erkennen, wenn er mir ins Gesicht schlüge“, lüge ich. „Ich wollte nur etwas beweisen.“

„Er ist eifersüchtig“, sagt Jay, „wie alle Neider. Neidisch und lächerlich. Wenn sie wie Michael singen könnten, oder tanzen wie Michael …“

„Oder wie Michael aussehen“, sagt der Amerikaner.

„Das ist Rassismus“, sagt die Italienerin. „Sie können den Erfolg eines Schwarzen nicht ertragen.“

„Er ist nicht mal schwarz.“

Marta zerrt mich zur Tür.

„Natürlich ist er schwarz“, sagt der Amerikaner.

„Er ist stolz, schwarz zu sein“, sagt die Italienerin.

„Er hat eine Hautkrankheit“, sagt Jay. „Jeder weiß das, außer dir, Var.“


Zwei Wochen später rufe ich ihn an, um mich zu entschuldigen, aber Jay würgt mich ab. Ich versuche es eine Woche später noch mal, doch das Ergebnis ist dasselbe. Im Dezember geht Marta in Jays Wohnung. Als sie zurückkommt, sagt sie, sie habe ihn betrunken und weinend vorgefunden. Sie führt aus, dass Jay nächstes Jahr Neverland hätte besuchen sollen, aber seine Einladung zurückgezogen worden sei.

Er hatte einen Auftrag als Lockvogel in London. Mit Gesichtsmaske, Hut und von Leibwächtern umgeben, sollte er einfach zwanzig Meter vom Wagen zum Carlton Hotel gehen. Doch als Jay die Fans draußen sah, verlor er die Fassung. Er stürzte vor, schüttelte Hände. Jemand schnappte ihm den Hut vom Kopf. Er machte noch ein paar Dancemoves, bevor die Bodyguards ihn wegzogen und ins Hotel drängten.

Jay wurde gesagt, er solle in einem Zimmer im einundzwanzigsten Stock warten. Ein Anwalt kam und teilte ihm mit, dass er gefeuert sei. Sie bewachten ihn, während er sich abschminkte und umzog, dann geleiteten sie ihn durch den Personaleingang nach draußen.

„Es war mein Job, ihn vor den Stalkern zu schützen“, sagte Jay. „Wer wird jetzt auf ihn aufpassen?“

„Geh zu ihm“, sagte Marta. „Ruf ihn nicht an. Geh einfach hin.“

Mache ich, aber Jay ist nicht da. Er ist ausgezogen.


1999. Seit drei Jahren hat niemand Jay gesehen. Er schreibt meinen Eltern eine Email - “Mir geht’s gut, ich hoffe, Euch auch. Jay“-, ruft aber nie an. Papa kriegt ein Geschwür, doch dann wird Marta schwanger, was ihn aufmuntert.

Als das Baby kommt, kommt auch Jay.

„Ich war in San Diego.“

„Was zum Teufel hast du denn da gemacht?“, sagt Papa.

„Ich habe überall auf der Welt Freunde, Papa.“

Jay trägt Jeans und ein Sweatshirt. Er hat sich einen Bart wachsen lassen und redet mit normaler, männlicher Stimme, einem Tenor. Er trägt eine Brille und sieht endlich mehr wie Jarvis Cocker als Michael Jackson aus.

„Bist du aufgetreten?“, sagt Marta und streichelt seine Hand.

„Ich bin im Ruhestand.“

„Im Ruhestand?“, sagt Papa, der selbst im Ruhestand ist. „In deinem Alter?“

„Du hast nichts Falsches getan, Jay“, sagt Marta.

„Was ich gesagt habe, tut mir leid“, sage ich. „Ich war neidisch.“

„Ich weiß“, sagt Jay. „Es geht nicht um dich.“

„Und was ist mit Geld?“, fragt Papa.

„Hab ich“, sagt er. „In rauen Mengen.“

„Echt?“

„Ich betreue eine Website. Wir haben hunderttausend Mitglieder.“

„Hast du eine Freundin, Jay?“, fragt Marta, während mein Vater in der Küche ist.

„Hatte ich“, sagt Jay. „Das ist einer der Gründe, warum ich zurückgekommen bin.“

Später am Abend sagt Papa zu mir, dass Jay erwachsen geworden ist, und will mit mir mögliche Karrierepläne für ihn bereden. Ich sage ihm, Jay sei immer noch genauso fanatisch wie eh und je, jetzt außerdem zu einem bloßen Verehrer degradiert, verbannt aus dem Garten Eden. Papa will mir nicht glauben.


2000. Jay zieht in ein neues Haus in Northumbria. Ich will ihn einmal nach einer Konferenz in Newcastle besuchen, aber er öffnet die Tür nicht (obwohl ich Licht oben im Haus sehen kann). Dummerweise beschimpfe ich ihn durch den Briefkasten. Marta erzähle ich nichts davon. Sie hat jetzt sowieso weniger Zeit für Jay; wir haben unser eigenes hilfloses Ding zu versorgen.

Aus unserem neuen Haus in Highgate rufe ich ihn einmal die Woche an, dann einmal im Monat, dann gebe ich es ganz auf. Von jetzt an ist seine Website der einzige Draht zu meinem Bruder. Er aktualisiert sie alle zwei bis drei Stunden, überwacht das Forum, fügt neue Schlagzeilen hinzu, neue Gedichte, Fanberichte, Interviews, Videos, Zitate, aktualisiert den Terminkalender.


2003. Mama ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Fahrerflucht. Jay kommt zur Beerdigung, und wir umarmen uns wie zwei Staatsmänner bei einem Gipfeltreffen. Er sitzt einsam in sich gekehrt da, bleibt aber für fünf Tage im Haus, redet nur mit Papa. Als er weg ist, diskutieren Marta und ich über einen Umzug in den Norden, aber die Idee verpufft. Wir sind zu egoistisch, zu modern. Papa kommt uns besuchen, erträgt jedoch London nicht und verlässt uns bald wieder. Er ruft mich zwei Wochen später an, um mir zu sagen, dass Jay „den Verstand verliert“.

„Inwiefern?“, frage ich.

„Guck auf seine Website.“

Das tue ich und erfahre, dass ein Journalist namens Martin Bashir eine Dokumentation gedreht hat, die Michael Jackson offensichtlich als instabilen Päderasten zeichnet, der weggeschlossen gehört. Wenn Jay Jarvis Cocker hasste, sind seine Gefühle gegen Martin Bashir noch hundertmal schlimmer. Er hat die Seite mit Hass vollgestopft und stößt Drohungen aus, die im Grunde Morddrohungen sind. Es ist schaurig und enthemmt.

Im November wird Michael Jackson wegen Kindesbelästigung und Alkoholgabe an Minderjährige verhaftet. Jays Website ist vorübergehend geschlossen, öffnet zu Jahresbeginn aber wieder. Ich rufe ihn mehrere Male an, doch er geht nicht ans Telefon. Dann sagt mir Papa irgendwann, dass er nicht mehr hier ist.

„Jay ist in Kalifornien“, sagt Papa. „Beim Prozess.“


2005. Jeden Abend um halb elf lädt Jay sein Videotagebuch auf den MJ-Schrein. Wir sehen ihn mit seinen Freunden, mit Hunderten von Freunden. Sie gehen Arm in Arm durch die Straßen und singen „You Are Not Alone, Michael“. Jay trägt ein Banner, auf dem steht: UK UNTERSTÜTZT MICHAEL: KINDERLIEB IST NICHT KINDERBELÄSTIGUNG.

Jay streunt durch Santa Monica, filmt andere Gruppen: BOSTON UNTERSTÜTZT MICHAEL; TEXAS LIEBT DICH MICHAEL; DIE PARIS BRIGADE; STOPPT VORURTEILE!

Sein Bart ist ab, sein Haar lang und gekräuselt. Er spricht mit allen Insignien ausgestattet in die Kamera, mit Make-up, Sonnenbrille, einem wogenden, weißen Hemd und einem gelben Armband:

Tag 7. Die ganze Welt liebt ihn und würdigt, was er für uns getan hat. Es ist nur eine winzige Minderheit, die versucht ihn zu stürzen. Herausragende Menschen werden immer vom Bösen attackiert. So erging es Martin Luther King; so erging es Diana; so erging es Mandela. Tom Sneddon wird der Arsch versohlt werden; bleibt nur dran und schaut zu. Ich bin hier bei meiner wahren Familie. Wie eine Armee der Liebe, nur völlig friedlich. Wir wissen, dass er frei sein wird.

Jubel aus dem Hintergrund.“Weiter so, Jay, weiter so“, rufen sie. Jemand übernimmt die Kamera, und wir können ihn mit seiner „wahren Familie“ sehen. Ein mausblondes Mädchen verwuschelt ihm die Haare. Eine adipöse schwarze Frau verschlingt ihn in einer Umarmung, bis ich nur noch seinen Glitzerhandschuh sehen kann. Sie skandieren:

„KEIN RECHT, KEIN FRIEDE! KEIN RECHT, KEIN FRIEDE!“

An mehreren Tagen geht Jay in den Gerichtssaal. Die Plätze werden per Lotterie zugeteilt, erfahre ich. Er beschreibt es für uns, was Michael trägt, sein Auftreten; ist er niedergeschlagen? Guten Mutes? Ausgelaugt? Er interviewt Hunderte von Fans. Eine von ihnen, eine Spanierin, sitzt mit einem Bier zwischen den Schenkeln und einem Fedorahut in den Händen auf dem Boden. Sie sieht müde und verweint aus:

Wir wurden von den Medien als Freaks dargestellt, aber wir sind bloß normale Leute mit Jobs und Familien, die denken, dass irgendwas mit dem verdammten System nicht stimmt. Ich musste 6000 Meilen reisen, um überhaupt die Fakten zu erfahren. Ist das fair? Die Tatsachen sollten doch von den Nachrichten geliefert werden. Aber werden sie nicht. Manchmal komme ich aus dem Gerichtssaal und denke, das war ein perfekter Tag für Michael, dann mache ich den Fernseher an und frage mich, ob wir überhaupt im selben Raum waren. Gute Nachrichten verkaufen sich nicht. Satan sitzt in diesem Gerichtssaal mit allen seinen Lügen, und wir bitten nur darum, dass Michaels Anwälte und alle, die heute befragt werden, einfach die Wahrheit sagen. Michael ist ein liebevoller, mitfühlender Mensch, und diese Frau … [Schluchzt. Jay aus dem Off: „Es war ein langer Tag …“]


Einmal zeigt Jay auf ein Haus und sagt:

Die Vermieterin da, die hat ihre Mieter rausgeworfen, die dort über zehn Jahre gewohnt haben, und hat die Zimmer an die Medienleute vermietet, um mehr Geld zu machen.

Jay wohnt mietfrei, übernachtet bei einer Frau namens Patricia, mit neun anderen. Patricia ist mütterlich und um die fünfzig. Wir sehen sie in ihrer Küche, wo sie Spaghetti für ihre Familie der Liebe kocht. Als sie Jay umarmt, steigen ihr Tränen in die Augen:

Er bedeutet mir die Welt, dieser Junge. Was Michael passiert ist, hat sein Herz gebrochen, aber er ist so leidenschaftlich dabei. Wir lieben und unterstützen uns alle einander hier, so wie wir Michael lieben und unterstützen. Ich habe sechzig, siebzig neue Freunde in dieser Woche gewonnen, mehr als in meinem ganzen Leben. Wir sind eine Gemeinschaft, weißt du. Kerry da drüben hat ihre Stelle als Kindergärtnerin nach dreizehn Jahren gekündigt, um für den Prozess hierherzuziehen …


Im März lädt Jay ein Video hoch, das eine Gruppe von Frauen aus Arkansas mit Bannern zeigt, auf denen steht: “Wir unterstützen die Opfer: DAS IST MEIN INTIMBEREICH.

Sie schreien den Slogan durch selbstgebastelte Lautsprecher. Die Armee der Liebe tritt ihnen entgegen.

“Ihr beleidigt Michael“, sagen sie.

“Wir waren bei Oprah“, sagt der Feind. “Man kann nicht totschweigen, dass …“

„Oprah liebt Michael.“

„Woher wollt ihr das wissen?“

„Woher wollt ihr das wissen?“

„DAS IST MEIN INTIMBEREICH.“

„Geht nach Hause mit eurem Intimbereich.“

In Patricias Wohnzimmer analysiert Jay die Konfrontation:

Ich schätze, sie meinen es gut. Sie liegen einfach falsch. Sie vertreten eine gute Sache, aber sie glauben, was sie in den Medien lesen, und das ist echt traurig. Sie sind am falschen Ort: Sie sollten dort sein, wo verurteilte Kinderschänder auf Bewährung rauskommen, nicht hier. Das ist ein Prozess. Wie auch immer, ich habe mich mit ein paar von ihnen unterhalten, und sie scheinen recht nett zu sein. Sie besitzen allesamt Michael Jackson-CDs und DVDs. [Lacht.] Ich rede morgen noch mal mit ihnen, schaue, ob ich sie umstimmen kann. Alles andere wäre sehr traurig.


Am 13. Juni 2005 wird Michael als unschuldig in allen Punkten freigesprochen. Es gibt eine Party auf der Straße, dann in Patricias Garten. Jay lädt den letzten Eintrag seines Videotagebuchs hoch:

Der größte Wunsch meines ganzen Lebens ist heute wahr geworden. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht zu weinen, denn uns war jeglicher Tumult im Gerichtssaal untersagt, sonst würden wir verhaftet werden. Ich sah Michael seine Augen mit einem Taschentuch abtupfen. Ich glaube, er ist jetzt sehr glücklich. Die Medien waren so gegen ihn. Ich bin wirklich stolz auf die Geschworenen: Sie haben die Regeln befolgt und waren ehrlich und wahrhaftig. Ich bin so froh, dass Michael jetzt frei ist und sein Leben weiterführen kann. Ich glaube, das können wir alle. Wir alle können jetzt wieder unser Leben leben.

Es ist das letzte Mal, dass ich Jays Stimme höre.


2006. Papa stirbt. Wir rufen Jay an und schreiben und emailen ihm, aber er antwortet nicht und taucht auch beim Begräbnis nicht auf.

Danach gebe ich jede Bemühung, mit ihm zusammenzukommen, auf. Marta, wieder schwanger, sagt: „Was, wenn er es gar nicht weiß?“

Ich spiele mit der Vorstellung, gebe dann auf.

„Klar weiß er’s“, sage ich. „Scheiß drauf. Lass ihn bei seiner wahren Familie sein.“


2008. Einmal die Woche checke ich Jays Website, dann einmal im Monat, dann sogar noch weniger. Ich gehe nur drauf, um zu sehen, ob er noch am Leben ist, was er offensichtlich ist, obwohl er keine Videos mehr von sich postet. Er wohnt jetzt in einem Haus irgendwo im ländlichen Northumbria. Wenn ich an ihn denke, dann meist voller Hass, also versuche ich es zu vermeiden. Ich arbeite härter. Anand ruft mich an, der die Musik aufgegeben hatte, um beim Economist zu arbeiten, hat das dann ebenfalls aufgegeben. Er lebt in einem Dorf irgendwo am Mittelmeer. Hütet Ziegen. Ich frage mich, wofür man lebt.


2009. Marta sagt mir, dass sie Tickets für This is It hat. Ich habe keine Ahnung, was das sein soll. Als sie es mir sagt, schreie ich los. Sie erwähnt es nicht mehr.

Im Juni fliege ich für eine Konferenz nach Berlin, irgendwas über den Wiederaufbau von Vertrauen zu Experten nach der Krise.

“Michael Jackson ist tot“, sagt der Kellner zu dem Paar am Tisch gleich neben uns.

Der Kellner hat gebleichtes Haar, grell wie ein Tennisball.

„Was hat er gesagt?“, frage ich den Holländer, obwohl ich es schon weiß.

„Michael Jackson ist tot.“


In Heathrow wähle ich, während das Flugzeug auf der Startbahn rollt, Martas Nummer.

„Er hat nicht angerufen“, sagt sie sofort.

„Scheiße.“

„Fahr schnell hin“, sagt sie.

„Mache ich“, sage ich ihr. „Jetzt.“

„Mein Gott, Varun …“

„Ich weiß.“

Ich lege auf.

„Ich hoffe, Ihr Bruder ist wohlauf“, sagt die Nonne. „Es hört sich an, als habe er nur die Orientierung verloren, mehr nicht. Aber ich bin mir sicher, dass er Sie liebt.“

Ich nehme ein Taxi nach Northumbria. Während der Fahrt rufe ich Jay mindestens zwanzigmal an, gebe dann auf. Der Fahrer hat das Radio an, und Würdigungen für Michael prasseln auf uns ein; sie spielen alle seine Hits, inklusive „One More Chance“. Als ich frage, ob er es ausstellen könnte, grummelt er, also erkläre ich ihm die Sache mit Jay und bin schon halb durch, als er mich bittet aufzuhören. Als ich aus dem Taxi und ins geronnene Licht steige, sagt er: „Er braucht einen Job, wenn Sie mich fragen.“

Jays Hütte ist von Feldern umgeben, verloren in einer hundertjährigen Trance. Ein Ort, um einen aufgeknüpften Mann mit abgekautem Gesicht vorzufinden. Alle Vorhänge sind zugezogen. Ob Kinder Angst vor ihm haben? Weiß überhaupt jemand, dass er hier lebt?

Ich klopfe an die abblätternde Tür und rufe “Jay!“ und dann “Feuer!“, bevor ich um das Haus gehe und einen Stein ins Fenster werfe.

Ich schneide mir beim Reinklettern den Arm auf und falle auf ein Sofa, das älter als ich selbst ist und Staub auskotzt und mich zu Boden krachen lässt. Mein Bruder hat eine musikalische Alarmanlage: “You’ve been hit by, you’ve been struck by …“ Ich glaube nicht, dass sie Einbrecher abschrecken könnte. Jeder Aspekt dieser Welt wurde michaelisiert. Es ist ein Zusammenstoß der Zivilisationen, die alten Götter müssen vergessen oder zerstört werden.

Hier unten ist nichts außer diesem Sofa und zwei harten Stühlen. Ich kann Mäuse hören. Die Küche sieht verwaist aus. Fett und Dreck bedecken die Oberflächen; Gras und Blätter liegen auf dem abgewetzten Teppich.

Oben ist es anders, sauberer. Ein königsblauer Teppich, ein Badezimmer mit Ganzkörperspiegel und einem Waschbecken voller Perücken, die wie tote Tiere aussehen. Auf dem Boden steht eine Sporttasche voll mit Lippenstiften, Rouge, Grundierung und Lidschatten. Über der Wanne hängt ein Bild von Michael aus der Dangerous-Tour, in Lebensgröße, mit einer Unterschrift in der Ecke der rechten Hand. Ich mache die Tür zum Schlafzimmer auf.

Dunkel hier, aber ich kann Jay schlafen sehen, sein ganzer Körper von der Bettdecke verhüllt. Über jeden Zentimeter des Bodens sind Kleider verstreut. Ich öffne die Vorhänge und setze mich aufs Bett.

Kein Atemgeräusch. Kein Heben und Senken. Das Wort „Schlaftabletten“ drängt sich auf. Ich spreche seinen Namen aus, falle dann auf die Knie und schüttle ihn. Er ist kalt. Ich reiße die Decke vom Bett und schreie vor Schreck auf.

Es ist nicht Jay. Nur eine lebensgroße Modellpuppe von Michael Jackson. Er trägt den roten Anzug aus Blood on the Dance Floor.

Ich starre ihn an, fluche und spucke dann, und bevor ich mir darüber bewusst werde, bin ich auf dem Bett, ringe, schlage, trete. Schwer zu sagen, wer gewinnt, Michael oder ich, aber sein Anzug ist zerrissen, und ich habe ihm mehrere Kopfnüsse verpasst, und jetzt hebe ich ihn über meinen Kopf und schleudere ihn gegen das Fenster, das aber nicht zerbricht.

Michael liegt auf dem Boden, diese blasse, kranke Haut, diese Lippen wie ein Blutfleck, dieser Splitter von Nase. Dangerous. Als ich aufblicke, hoffe ich, Jay zu erblicken, amüsiert über mein Celebrity Death Match, aber nein, ich bin allein in diesem Gespenst von einem Haus und rede zu einer Fiberglaspuppe.

„Ich hasse dich, du Wichser“, sage ich. „Aber ich liebe dich auch. Und Jay liebe ich auch. Obwohl ich, bei Gott, wünschte, er wäre normal. Aber was ist normal? Du bist nicht normal, oder? Du bist seltsam, und seltsam ist okay. Seltsam ist sogar gut. Wir sind alle seltsam. Wenigstens hattest du den Mumm, du selbst zu sein, Michael, aber bitte, finde meinen Bruder. Bitte, Michael, bitte.“

Und dann sehe ich es. In der Wunde von Puppenmund steckt ein Stück Papier, gefaltet wie ein Kaugummistreifen. Ich falle aus dem Bett, greife es mit beiden Händen und ziehe. Es wird länger und länger, bis es schließlich ganz draußen ist, und ich breite die Seiten auf dem Boden aus.


Liebster Varun,

wir werden uns nie wieder sehen, zumindest nicht in diesem Leben. Ich weiß, dass das ein Schock für Dich sein wird. Gott weiß, wie viele Schmerzen ich Dir schon bereitet habe.

Ich weiß nicht genau, was ich sagen soll. Ich schätze, ich sollte mit einer Entschuldigung beginnen. Trotz allem, was ich gesagt und getan habe, wirst Du immer mein Bruder sein, und ich liebe Dich. Ich habe jeden Tag an Dich gedacht, aber irgendwie habe ich nicht den Mut fassen können, Dich anzurufen. Ich glaube, es lag an meinem Stolz, weil ich weiß, dass Du mich immer für verrückt gehalten hast, dass meine Liebe (Obsession, würdest Du sagen) zu Michael mehr so etwas wie eine Krankheit war. Ich weiß, dass Du mich zu einem Psychiater schicken wolltest, so, wie sie früher Schwule und Kommunisten dorthin geschickt haben, doch verstehe bitte, Varun, dass ich Dich für keines dieser Dinge anklage. Wir alle leben in unserer eigenen Welt. Wie können wir je etwas anderes wahrnehmen?

Auch wenn Du gedacht hast, dass ich verrückt sei, hast Du mich immer geliebt und unterstützt, Varun. Du gabst mir Geld, wenn ich es gebraucht habe, Du kamst zum Konzert, Du hast meine Freunde kennengelernt, Du hast Dir alle Alben von Michael angehört, obwohl Du es nicht wolltest. Als Vater starb, kam ich nicht, weil ich dachte, dass Du mich nicht dabeihaben wolltest. Aber das war natürlich töricht. Du hast mich immer akzeptiert, egal, was war. Ich war es, der Dich zurückgewiesen hat, und es tut mir aufrichtig leid.

Ich weiß, dass Du das nicht verstehen wirst, aber der einzige andere Mensch, der mich wirklich akzeptiert hat, war Michael. Ich war dreizehn, als ich wusste, dass ich ihm mein Leben widmen würde. Kennst Du das Lied „You Are My Life“? So fühle ich mich. Es war ein großes Glück für mich, ihm all die Jahre dienen zu dürfen. Er glaubte wirklich, dass es möglich ist, die Welt zu heilen, und so viele von uns haben es mit ihm geglaubt. Vielleicht sind wir verrückt, aber manchmal ist es gut, verrückt zu sein.

Vor ein paar Jahren habe ich, wie Du weißt, einen schrecklichen Fehler gemacht und Michael enttäuscht, und ich habe den Preis dafür gezahlt. In der Schreibtischschublade wirst Du einen Brief von ihm finden, in dem er mir vergibt. Ich habe ihm um die hundert Male geschrieben, bis er antwortete. Natürlich hat er dann geantwortet. Michael hasst es, eine Seele in Schmerzen zu sehen. Aber versteh, Varun, dass er mir vergeben hat, hat nicht gereicht. Ich musste mich reinwaschen. Vielleicht wirst Du das nie verstehen, aber ich musste das ultimative Opfer bringen, und ich habe es gerne gemacht, für ihn. Es war nicht seine Idee. Das musst Du wissen. Er hätte dem niemals im Leben zugestimmt, nicht in Billionen Jahren. Es war nicht mehr in seiner Hand, und in meiner auch nicht. Ich hatte einfach die Möglichkeit, ihm zu helfen. Es sind dunklere Mächte im Spiel hier, mehr werde ich darüber aber nicht sagen. Wenn ich das mache, gibt es nur Ärger.

Also vergib mir, Varun, und sorge für Marta und für meine Website, wenn Du es kannst. Die ganzen Log-in-Daten sind in einem File in meinem Computer. Es gibt so viele Leute, die das tun könnten, aber ich möchte, dass Du es tust, weil ich weiß, dass es Dir am Ende so viel Vergnügen bereiten wird, und Du wirst den anderen so viel Vergnügen bereiten, und Du verdienst es wirklich.

Ich liebe Dich, mein Bruder, für immer und ewig …

J

PS: Schau in Michaels Innentasche. Er hat Dir ein Geschenk dagelassen.


Das mache ich. Es ist ein Scheck über zwanzig Millionen Dollar. Aber von Jay, nicht von Michael, und auf mich ausgestellt.


Ich benutze die Website, um nach Jay zu suchen. Es gibt über 100.000 Mitglieder, wahrscheinlich sogar eine Million, wenn man die mitzählt, die als Gäste posten. Unzählige andere stolpern vorbei, nur weil sie ein Video von „Billie Jean“ sehen wollen und hier anstatt bei YouTube landen. Wenn man Jay finden kann, dann auf diesem Weg.

Ich poste ein „Wanted“-Poster und bekomme mehrere Antworten, doch zumeist nur Sympathie- und Unterstützungsbekundungen, dazu etwa hundert Anzeigen für allerlei lächerliche Sachen. Doch keiner hat meinen Bruder gesehen.

Marta und ich treffen Hunderte von Leuten auf der Website, im Forum und im Chat, von denen viele zu Jays Familie gehörten. Sie kennen Seiten an ihm, von denen ich nicht wusste. Ja, er hatte Freundinnen, womöglich auch Freunde, auch wenn mir keiner eine klare Antwort darauf geben will.

Leute aus der ganzen Welt laden Bilder und Videos von ihm hoch oder senden sie gleich an meine Inbox. Ich schaue mir stundenlang Konzertmaterial an. Manchmal ist es schwer zu sagen, ob das da auf der Bühne Michael oder Jay ist; so gut war Jay; wiewohl ich mit der Zeit kleine Hinweise bemerke, das winzige Muttermal auf Jays Oberlippe etwa, die Art und Weise, wie Michael seine Finger spreizt, wenn er tanzt, wie Jays Locken immer nach links wallen. Aber klar: Jay ist ein Meister. Es muss für Michael ein Schlag ins Gesicht gewesen sein, jemanden so Gutes entlassen zu müssen.


2010. Als Administrator des MJ-Schreins empfange ich regelmäßig Anfragen nach bestimmten Video-Uploads, Ankündigungen von Fan-Treffen in Florida oder Liverpool, Erkundigungen über unveröffentlichtes Material. Durch meine Interaktionen mit Jays Freunden im Forum kann ich den meisten dieser Anfragen entsprechen. Ich werde zur Vermittlungszentrale, bis ich langsam selbst Initiative zu übernehmen beginne, die Mitglieder auf Janets neue Tour oder auf Oprahs Interview mit Paris hinweise, oder auf Navis Gig in Germany. Ich versuche, die Rachegelüste abzuschwächen, wenn nicht gar zu verbannen, und verleihe dem besonderen Nachdruck, indem ich die Forumsregeln neu definiere.

Es kommt nicht darauf an, wie Michael gestorben ist. Last uns in Erinnerung halten, wie er gelebt hat. Ob es durch einen Unfall, mit Absicht oder durch Nachlässigkeit war, wir müssen weiterleben und weiterlieben, nicht den Hass übernehmen lassen. Das hätte Michael so gewollt.

Ich glaube das selbst.

Als unmittelbares Ergebnis meiner Posts trocknet das Gift schnell und still aus. Durch diese Aktion werde ich als Kernmitglied der Fan-Community anerkannt, eine virtuelle Nation, die durch sein Ableben nur größer geworden zu sein scheint. Ich lasse ein paar Fans sogar in unserem Gästezimmer übernachten, wenn sie nach London kommen. Sie sind jetzt auch meine Familie, zumindest irgendwie.

Was meine Karriere angeht, so verhandle ich meinen Vertrag neu aus, erst auf die Hälfte des Arbeitsvolumens, dann auf ein Viertel, und dann gebe ich nur noch einen einzigen Kurs. Ich schreibe keine Aufsätze mehr und besuche in zwanzig Monaten nur zwei Konferenzen. Ich kündige meine Abos beim Economist, bei der FT und dem Journal of Economic Theory, und ich höre nicht mehr Radio 4, sondern ziehe es vor, Musik zu hören, darunter viel vom King of Pop. Man kann sagen, dass ich mich in Michael verliebe und so meinen Bruder in Ehren halte.

Das ist nun mein Leben: die Website, Marta, unsere zwei Jungen, die beide fragen: „Wann kommt Onkel Jay zurück?“, worauf ich antworte: „Ich weiß es nicht“, was beinahe die Wahrheit ist. Schließlich habe ich keine Beweise und keinen vernünftigen Grund, überhaupt etwas zu glauben. Aber ich habe mein Bauchgefühl. Meinen Instinkt. Mein Herz. Und sie sind stärker als jede Vernunft. Jay war es, der mich das gelehrt hat.

Manchmal begegne ich ihm im Traum. Wenn der Wind kalt und grausam ist, wache ich auf und weine mitten in der Nacht um ihn. Aber an freundlicheren Tagen bleibt er, und wir unterhalten uns, und ich wache glücklich auf. „Es ist schwer, durch diese einsamen Nächte zu kommen“, schreibt jemand im Forum. „Ich werde dich im Auge behalten, indem ich dich zum Traum mache.“ Das wurde über Michael geschrieben, aber es drückt gut aus, was ich für Jay empfinde. Genau genommen, empfinde ich es für beide.

Manchmal in der Nacht schaue ich durch die Dachluke, und es ist, als ob ich Jay fühlen könnte, der heller als die anderen glänzt, und dann frage ich mich, wer von uns der Narr war. Ich würde gerne glauben, dass die einzige Wärme, die wir brauchen, aus uns selbst kommt, aber wir brauchen die Stars, die Sterne, um uns daran zu erinnern, dass auch wir strahlen können, selbst wenn unsere Welt langweilig und kaputt ist. Und vielleicht ist das der Grund, warum wir an ihnen hängen, obwohl wir wissen, dass sie nicht real sind.


2011. Fünf Uhr morgens, Marta hat mich aufgeweckt. Ich taste nach dem Kaffee, aber es gibt keinen. Ihr Gesicht ist von Tränen und vor Schreck aufgedunsen.

„Ist alles okay mit den Kindern?“

Sie küsst mich auf die Wange.

„Es geht ihnen gut.“

„Was ist los, meine Liebe?“

Sie schiebt mir ihr iPad in den Schoß.

Ich gucke. Es ist ein YouTube-Video.

DAS IST ER, heißt die Überschrift. KEIN HOAX.

„Das Video habe ich mit meinem Handy in Ishbiliya Village, Bahrain aufgenommen. ICH WIEDERHOLE: DAS IST KEIN HOAX.“

7.034.544 Klicks.

„Google war zwei Stunden offline“, sagt Marta. „Das gab es nicht seit …“

Ich drücke auf Play.

Ein Mann im mittleren Alter kauft ein. Dünn, hellhäutig, geschmeidig, biegsam. Er trägt eine Sonnenbrille, eine weiße Jalabiya, einen dünnen Turban um den Kopf und ein Taschentuch vor dem Mund, um Sand und Staub abzuhalten. Während die Kamera scharfstellt, entledigt er sich des Tuchs und der Sonnenbrille. Jetzt können wir sein Gesicht sehen. Diese Lippen wie ein Blutfleck, dieser Splitter von Nase, diese perfekten Hände, die Art, wie sie sich spreizen, während er über einen Witz lacht, den wir nicht mitbekommen haben.

This is it.

Das ist Michael. Er lebt. Er lebt.

Und dann sehe ich Martas Gesicht, den Schrecken und die Tränen. Sie war immer schneller als ich.

„Var“, sagt sie. „Verstehst du nicht?“

Ich schaue es mir noch mal an, aber sie nimmt mir das iPad ab und googelt „Michael Jacksons Leiche“.

Ich sehe mir die Bilder an.

25. Juni. Sein Todestag.

Sie scrollt hinab zu den Kommentaren, es gibt Tausende.

„Wer zum Teufel ist das?“

„Es ist ein Fake, du Idiot!“

„Wie kann es ein Fake ein?“

„Es ist kein Fake. Es ist ein Doppelgänger.“

Ich gehe zurück auf die Bilder und starre sie an. Tränen kommen mir, ich wische sie weg, aber sie fließen nach. Es ist zu spät. Ich kenne es. Das Muttermal auf der Oberlippe.

“Ich musste das ultimative Opfer bringen. Wir werden uns nie wieder sehen, zumindest nicht in diesem Leben.“


Zwanzig Millionen Dollar. Aber Jay hätte für dieses Privileg noch draufgezahlt. Ich öffne die Nachttischschublade und hole seinen Brief heraus, seinen Abschiedsbrief, wie sich jetzt herausstellt:

“Es war nicht seine Idee. Das musst Du wissen. Er hätte dem niemals im Leben zugestimmt, nicht in Billionen Jahren. Es war nicht mehr in seiner Hand, und in meiner auch nicht. Ich hatte einfach die Möglichkeit, ihm zu helfen. Es sind dunklere Mächte im Spiel hier, mehr werde ich darüber aber nicht sagen. Wenn ich das mache, gibt es nur Ärger.“

Dunklere Mächte? Ich frage mich, was das heißt. Seine Gläubiger? Sein Plattenlabel? Es heißt, er habe nach seinem Tod Milliarden verdient, seine Schulden um ein Vielfaches eingespielt. Aber das ist mir egal. Die Wahrheit wird am Ende wohl herauskommen, doch mein Bruder ist weg, und zwar für immer.

Ich denke zurück an die Zeit, als wir Kinder waren. Erster Preis am Tag des Kindes. Zu „ABC“ auf dem Sofa tanzen. Für drei Jahre war Jays Wunsch wahr geworden. Drei Jahre lang war er, in diesem Sarg, Michael Jackson.

Ich gehe auf den Schrein und finde ein altes Video von Jay auf einer Bühne in Camden. Ich schaue es mir wieder und wieder an, bis Marta mir den Computer abnimmt und mich in ihre Arme schließt.

Impressum

Erstveröffentlichung
Fiktion, Berlin, 2014
www.fiktion.cc
ISBN: 978-3-9816970-0-1


Projektleitung Programm
Mathias Gatza, Ingo Niermann


Projektleitung Kommunikation
Henriette Gallus


Englisches Lektorat
Alexander Scrimgeour


Englisches Korrektorat
Sam Frank


Deutsche Übersetzung
Thomas Melle


Deutsches Lektorat
Mathias Gatza


Deutsches Korrektorat
Rainer Wieland


Graphikdesign
Vela Arbutina


Programmierung
Maxwell Simmer, Version House


Das Copyright für den Text liegt beim Autor.


Fiktion wird getragen von Fiktion e.V., entwickelt in Kooperation mit dem Haus der Kulturen der Welt und gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes.


Fiktion e.V., c / o Mathias Gatza, Sredzkistrasse 57, D-10405 Berlin


Vorstand
Mathias Gatza, Ingo Niermann
Vereinsregisternr. VR 32615 B beim Amtsgericht
Charlottenburg ( Berlin )


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